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Havelgeister (German Edition)

Havelgeister (German Edition)

Titel: Havelgeister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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geradeaus gerichtet. Und ihr Gesicht wirkte besorgt, ja sogar nervös. Das war nicht das, was man in trauernden Gesichtern üblicherweise ablesen konnte.
    Wegmann sah dem silbernen Mercedes nach, bis das Auto in Höhe des Waschsalons ins Deutsche Dorf einbog, um von dort ins Parkhaus der Sankt Annen Galerie zu fahren. Er hatte die Frau sofort erkannt. Christina Böttger, Unternehmergattin und First Lady in einer Person. An der Seite von Thomas Böttger war sie von der einfachen Sekretärin zur meist beachteten Frau der Stadt geworden. Aber seit gut einem Jahr war sie in der Öffentlichkeit kaum mehr zu sehen, was die Gerüchteküche ordentlich anheizte.
    Bei Wegmann entstand die Frage, was eine Frau, die sich ansonsten so zurückzog, wenige Tage nach dem Tod des eigenen Sohnes mitten in einer belebten Stadt macht? Er rannte trotz der roten Ampel über die Sankt-Annen-Straße und schlüpfte durch den Haupteingang in die Einkaufsmeile. Wenn er sie nicht aus den Augen verlieren wollte, musste er schnell an die Rolltreppen kommen, die einzige Möglichkeit, von den Parkdecks in die Galerie zu gelangen. Und da war sie auch schon. In einem schwarzen Kostüm stöckelte Christina Böttger neben dem Eingang des REWE-Markts. Wie hinter dem Lenkrad ihres Cabrios war ihr Blick streng geradeaus gerichtet, als habe sie eine schmerzhafte Zerrung in ihrer Halsmuskulatur.
    Die Tarnung war perfekt. Sie trug jetzt eine große Sonnenbrille und ein Seidenkopftuch. Niemand außer Wegmann schien von ihr Notiz zu nehmen. Christina Böttger marschierte unbeachtet dem Haupteingang entgegen.
    Wegmann zögerte nicht. Er blieb etwa zehn Meter hinter ihr und reihte sich draußen in die Menge ein, die an der Ampel auf grün wartete. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wandte sich Frau Böttger nach rechts, um nach knapp dreißig Metern die Tür der Deutschen Bank aufzudrücken.
    Wegmann blieb an der Glasfront des Gebäudes stehen und versuchte durch die Lammellenvorhänge hindurch etwas zu erkennen. Die Bank war zu so früher Stunde noch leer, lediglich eine junge Frau mit einem Kleinkind an der Hand stand am Schalter. Ein Mann mit grauem Anzug und blauer Krawatte kam auf Christina Böttger zu und ergriff wie ein Pastor nach dem Gottesdienst die Hand der Kundin. Wegmann war sich sicher, dass er gerade sein aufrichtiges Beileid aussprach, denn das uniforme Lächeln der Bankangestellten war bei ihrem Anblick plötzlich aus seinem Gesicht verschwunden.
    Dann aber schien es doch noch geschäftlich zu werden. Der Banker veränderte seinen Gesichtsausdruck und führte seine Kundin in einen separaten Raum, dessen Wände aus Glas gearbeitet waren. Transparenz in Bankgeschäften war ein Gewinn für jeden Journalisten, freute sich Wegmann.
    Um nicht erkannt zu werden, blieb er lieber draußen stehen und zog ein Infoblatt der Deutschen Bank aus dem kleinen Plastikkasten, der neben dem Eingang hing. Die digitale Gesellschaft: Neue Wege zu mehr Transparenz, Beteiligung und Innovation. Ein schönes Thema, das Wegmann aber gerade nicht interessierte. Über den Rand des Prospektes hinweg verfolgte er, was Christina Böttger und ihr Bankberater gerade taten.
    Sie hatten sich mittlerweile gesetzt und der Banker schob mit einem Lächeln – er war nun einmal so konditioniert – einen schwarzen Aktenkoffer über den Tisch. Wegmann rückte etwas näher an die Glasscheibe heran, konnte aber nichts erkennen, da der Koffer verschlossen blieb. Egal, was der Inhalt war, er bedurfte offensichtlich keiner Kontrolle.
    Als Wegmann gerade sein Handy aus der Tasche zog, um von Karin den Golf zu erbetteln, erhob sich Christina Böttger und schüttelte dem Bankangestellten die Hand, ihre Miene blieb eingefroren. Dann kam sie auf die Straße und verschwand wenig später wieder in der Sankt Annen Galerie. Hätte Wegmann ihr vorhin am Fahrstuhl einen Apfel auf den Kopf gelegt, er wäre bislang nicht gefallen.
    Er wählte Karins Nummer. »Wo bist du gerade?«, fragte er, als die Fotoreporterin sich meldete.
    »Ich bin auf dem Weg in die Redaktion. Muss noch Bilder einlesen und bearbeiten.«
    »Und wo bist du genau?«
    »Ich fahre gerade am Bermudadreieck vorbei. Warum fragst du?« Sie war also höchstens zweihundert Meter von ihm entfernt.
    »Das ist genial«, beschied er. »Dann nimm mich in der Sankt-Annen-Straße auf. Ein kleiner Auftrag investigativer Natur. Wir brauchen verdeckte Fotos. Du weißt schon, wie von einem Detektiv geschossen.«
    Nur zwanzig Sekunden später

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