Havelgeister (German Edition)
Typ ist gar nicht nach Hause gefahren«, sagte er. »Da liegt nämlich gar kein Dorf. Der Bulle hat dir nur letzte Anweisungen gegeben.«
»Nein, nein, nein. Da hinten liegt Lünow, und da wohnt Herr Conrad auch. Das musst du mir glauben.«
»Du kennst sogar seinen Namen? Eine feine Bande seid ihr. Kriegst du auch ein Kopfgeld?«
»Hör jetzt endlich auf mit dem Unsinn«, flehte Lara. »Und unterstell mir nicht solche Sachen.«
Aber dafür war es bereits zu spät. Kevin hatte einen Entschluss gefasst. Er musste weg hier. Allein, und niemand durfte erfahren, wohin er sich absetzen würde. Vielleicht nach Jugoslawien, woher seine Oma gekommen war, bevor sie ihn aus Hohenstücken befreit hatte. Ja, genau. Dorthin würde er sich durchschlagen und bei den Freunden abtauchen, die Oma Frieda da noch haben musste.
Er schaltete die Lampe wieder ein und raffte alles an Essbarem in den Rucksack. Dann leuchtete er Lara ins Gesicht. »Du Lügnerin«, schrie er sie an. »Du bist eine verdammte Lügnerin.«
Mit zwei Schritten war er an der Luke. Sein Magen krampfte sich zusammen. Nur jetzt nicht schlappmachen. Durchhalten, Kevin.
Als Lara ihn am Sprunggelenk zu fassen bekam, drehte sich Kevin abrupt um und stieß die Bullentochter von sich.
»Komm mir nicht zu nahe, du Schlampe«, drohte er ihr. Dann zog er den Holzscheit zur Seite und riss die Luke auf. Mit dem linken Fuß schon auf der Treppe, drehte er sich noch einmal um. Würde sie jetzt um Hilfe schreien?
Zuzutrauen war es ihr. Sicher war sicher, und so sprang er noch einmal zurück in die Mühle. Er machte einen großen Schritt nach vorn, hob die schwere Taschenlampe über den Kopf und schloss die Augen.
25
Ab dem Parkplatz war Manzetti gerannt wie die letzten zwanzig Jahre nicht. Auch die gläserne Schiebetür der Notaufnahme hätte er fast durchsprungen wie ein Tiger den Papierreifen im Zirkus. Gerade noch rechtzeitig waren die beiden Türhälften auseinandergefahren.
Jetzt stand er an Laras Bett, hatte den grünen Kittel nur umgelegt und schaute permanent auf die abwechselnd piependen und bunte Kurven zeichnenden Geräte, die über und neben Lara ihre Arbeit verrichteten und Manzettis große Tochter damit am Leben hielten. Sein Blick wanderte zu ihrer Brust, die sich unter dem dünnen Hemdchen abzeichnete. Auf und ab, auf und ab, sie hob und senkte sich synchron mit dem Blasebalg, der in einem Glaszylinder vorübergehend die Atmung seiner Tochter übernommen hatte.
Dann sah er auf die andere Seite des Bettes. Dort hielt Kerstin seit fast einer Stunde Laras Hand. Sie schwieg, hatte bislang jeden seiner Versuche, mit ihr zu reden, mit einer knappen Handbewegung abgewehrt. Jetzt war sie nur für ihre Tochter da, ihr Mann musste warten. Hin und wieder schenkte sie ihm aber einen jener Augenaufschläge, die er seit über zwanzig Jahren so an ihr schätzte. Wir bekommen das hin, bedeuteten sie, oder halt mich fest. Jetzt sagte sie ihm still, dass sie es schaffen würden. Sie würde die Rolle der Powerfrau einnehmen, die alles aus dem Weg räumt, was dem Überleben ihrer Tochter entgegenstehen konnte.
Manzetti wandte sich um und verließ den Raum, um nach einem Arzt zu suchen. Das Dienstzimmer war leer. Sie finden uns irgendwo bei den Patienten, hatte ihm die Schwester vorhin gesagt. Scheuen Sie sich nicht, hatte sie noch hinzugefügt, was wohl so viel bedeuten sollte, als dass die Patienten der Intensivmedizin in ihren komatösen Zuständen daran keinen Anstoß nehmen würden.
Langsam ging er an dem Schwesternzimmer vorbei und lugte in den nächsten Raum. Zwei Betten, von denen eines belegt war. Ein junger Mann mit verbundenem Kopf und genauso verkabelt wie Lara. Auch er musste beatmet und durch zwei Infusionen mit Medikamenten versorgt werden.
Einen Raum weiter fand er endlich eine Schwester. Sie war kaum älter als Lara, trug ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und strahlte Manzetti an, als sie seine quietschenden Schritte wahrnahm.
»Es geht ihr gut, Herr Manzetti. Sie spürt, dass Sie da sind.«
Meinte sie das ernst oder war es nur eine Floskel, die man lernen musste, um auf einer Intensivstation arbeiten zu können?
»Ja«, flüsterte er und nickte. »Wann kommt denn endlich ein Arzt?«
»Gleich, Herr Manzetti. Der Doktor operiert noch, muss aber jeden Moment hier sein.«
Manzetti wollte antworten, zwang sich aber, die Entgegnung hinunterzuschlucken. Gleich, Herr Manzetti. Das hatte die junge Schwester schon vor einer halben und auch vor
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