Havelgeister (German Edition)
blies sie dann gegen die Finger aus, die er zur Steigerung seiner Konzentration an den Mund gepresst hielt. »Sie gehört in diese Crew, die Claasen als Schrei auf dem Dach des Doms verewigt hat. Ich habe mit ihr darüber gesprochen und letztendlich eine Vorhaltung geerntet, die es in sich hat.« Bei diesem Gedanken hatte Manzetti die Worte seines Nachbarn Paul im Kopf, die der alte Binnenschiffer gebetsmühlenartig von sich gegeben hatte: Man muss sich im Leben immer entscheiden. Für wen willst du denn sonst die Fahne schwenken, wenn unsere Jungs im Endspiel auf die Italiener treffen? »Sie hat mir zum Vorwurf gemacht, dass meine Hin- und Herzieherei zwischen Brandenburg und der Toskana sie davon abhält, Freunde zu finden.«
»Kluges Mädchen«, begeisterte sich Bremer.
»Auch deshalb habe ich ja das Haus am See gekauft. Aber vielleicht hätte ich mit ihr darüber reden sollen. Dann hätte sie gewusst, dass wir nun sesshaft werden.«
Bremer sprang vom Schreibtisch und ging in Richtung Kaffeemaschine. »Kluger Vater. Nur ein bisschen spät.« Er nahm die Thermoskanne und schüttelte sie an seinem Ohr. »Willst du auch einen. Könnte für uns beide reichen.«
»Ja. Ohne alles, schwarz und ungesüßt.«
Bremer kam zu Manzetti zurück und hielt ihm den Becher hin. »Erzähl mir lieber etwas von gestern Abend. Wann ist sie weg und vor allen Dingen mit wem?«
»Sie wollte plötzlich noch mal los.« Manzetti sah zur Zimmerdecke. »Ich glaube, es war schon nach einundzwanzig Uhr. Und ungewöhnlich war auch, dass sie etwas zu essen mitnehmen wollte. Du musst ihr ansonsten abends das Essen fast hineinprügeln, da sie sich weigert, ab sechzehn Uhr noch etwas runterzuschlucken. Das macht nämlich dick.«
»Mädchenkram. Das verwächst sich«, beruhigte Bremer. »Weiter.«
»Weiter? Kerstin hat ihr den Rest der Gnocchi eingepackt, die sie gestern Abend gekocht hatte, und dann ist Lara losgezogen. Sie sollen Vögel erkunden, hatte sie uns zur Erklärung gegeben.«
»Die Vögel oder das Vögeln«, scherzte Bremer.
Manzetti sandte ihm dafür einen galligen Blick. Für derlei Späße im Zusammenhang mit seinen Töchtern war seine italienische Seele nicht der richtige Partner.
»Unterwegs hat sie einen Kollegen von mir getroffen, der im Nachbardorf wohnt. Der war es schließlich auch, der den entscheidenden Hinweis gab und die Suchmannschaft zur Mühle schickte.«
»Wann hast du denn die Fahndung ausgelöst?«
»Um dreiundzwanzig Uhr sind wir nervös geworden. Sie war schon eine halbe Stunde überfällig, und Kerstin hatte versucht, sie mehrfach auf ihrem Handy zu erreichen. Ohne Erfolg. Dann aber, ich glaube, es war zehn nach elf, ging jemand ran.« Manzetti sah Bremer mit Augen an, die kleine Kinder haben, wenn sie das erste Mal im Leben aus einer Geisterbahn gekrochen kommen. »Es war eine männliche Stimme. Und sie klang markerschütternd wie die des Hexers bei Edgar Wallace.«
»Und was hat die Stimme gesagt?«
»Hallo … sie hat nur Hallo gesagt.«
»Und dann?«
»Und dann haben wir gesucht. Paul hat das halbe Dorf alarmiert. Schließlich gab der Kollege den Hinweis, dass er sich an dem Feldweg von ihr getrennt hatte, der zur Mühle hinaufführt. Da lag sie dann im eigenen Blut.«
Hier brach Bremer die Befragung seines Freundes ab. Trotz seiner kriminalistischen Professionalität, wechselte Manzetti nämlich gerade von der objektiven Wahrnehmung in die Übertreibung, die vielen Familienangehörigen von Gewaltopfern eigen war. Bremer wusste aus den ersten Berichten, die ihm die Polizei in die Hand gedrückt hatte, dass Lara in allem möglichen lag, jedoch nicht im eigenen Blut. Und die Ursache dafür glaubte er zu kennen.
»Traust du dir die Begutachtung zu?«, fragte er Manzetti.
Der überlegte nicht lange. »Natürlich.«
»Dann lass uns gehen, bevor deine Kollegen vom LKA auftauchen.«
Am Bett von Lara, die noch immer in ihrer Narkose schlummerte, legte Manzetti den Arm um Kerstins Schultern. »Schatz, es ist jetzt besser, wenn du draußen Platz nimmst. Bremer muss Lara untersuchen, und das könnte dich …«
Bei diesem Wort löste sich Kerstin aus den Armen ihres Mannes. »Nein«, lautete ihr einziger Kommentar, und Manzetti wusste sofort, wie eindeutig dieses Nein war.
Bremer nickte und hängte sein Diktiergerät neben den Infusionsbeutel, aus dem Lara mit einem Schmerzmittel versorgt wurde. Dann zog er die Einweghandschuhe an und schob Manzetti zur Seite.
26
Die Frau hielt ihren Kopf stur
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