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Haveljagd (German Edition)

Haveljagd (German Edition)

Titel: Haveljagd (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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rechtzeitig geschafft hatte, sich hinzulegen und das Gesicht abzuwenden.
    Kutzner trat ein und hielt irgendetwas in der Hand. Was, konnte Michaelis nicht erkennen, aber es war nicht der übliche Baseballschläger. Dieser Gegenstand wirkte weicher, viel weicher sogar.
    »So, Schreiberling. Bevor die Chefin eintritt, muss ich dir mal den Sack überstreifen.«
    Kutzner riss so heftig an Michaelis herum, dass der ein tiefes Stöhnen produzierte, das aber nicht einmal ansatzweise seinen Schmerzen entsprach.
    »Wenn du ihn runterziehst, bevor die Chefin wieder raus ist, hau ich dir in die Fresse.«
    Er hätte wenigstens »Hm« machen sollen, denn Kutzner trat ihm nach einer kurzen Pause gegen den Oberschenkel. »Hast du das verstanden, Schreiberling?«
    Michaelis ließ einen Ton hören, der allerdings nur bis zum Kehlkopf kam, aber trotzdem so viel bedeutete, wie jedes laute und deutliche »Ja, Sir«.
    Dann verschwand Kutzner, um kurze Zeit später ein erstes Mal wieder zu erscheinen, allerdings ohne die Chefin. Stattdessen ließ er etwas neben Michaelis auf den Boden fallen, das sich anhörte wie eine dicke Matratze oder ein mit Lumpen gefüllter Sack. Bei seiner erneuten Rückkehr lud er darauf ein wimmerndes Bündel ab, und in Michaelis brandeten höllische Schmerzen auf. Dieses Mal tief im Inneren, in der Herzgegend, aber nicht weniger grausam, denn das Jammern gehörte unverkennbar zu Tim.

    ***

    Nina Becher stellte zwei Gläser und eine Flasche Apfelsaft auf den Tisch. Eigene Ernte und selbst gepresst, also hundert Prozent Natur.
    Manzetti drehte derweil an seinem Ehering herum. »Wie kam Tim nun von Sri Lanka nach Deutschland?«
    Nina goss den goldgelben Saft in die Gläser und schüttelte den Kopf. »Tim war noch nie in seinem Leben in Sri Lanka. Er kam in einer Privatklinik am Stadtrand von Moskau zur Welt, geboren von einer Leihmutter.«
    Manzetti schaute Nina nur an und ließ vorerst auch das Glas unberührt.
    »Mein Vater war Lehrer, wie Sie ja vielleicht schon wissen. Deutsch und Russisch. Die perfekte Kombination, um neben den Schülern am Gymnasium auch russische Einwanderer zu unterrichten. Und da geschah es, dass sich eines Tages eine junge Frau an ihn wandte.«
    »Und was wollte sie?«
    »Sie selbst wollte nur Deutsch lernen. Aber ihre Schwester hatte ein Problem, und die beiden hofften wohl, dass mein Vater ihnen helfen könne.«
    Manzetti ahnte, worauf die Geschichte hinauslaufen würde, unterbrach sie aber nicht.
    »Die Schwester seiner Schülerin hieß Oxana, glaube ich. Den Nachnamen habe ich vergessen. Sie also brauchte die Hilfe meines Vaters.«
    »Und diese Oxana ist die Mutter von Tim?«, fragte Manzetti.
    »Wenn Sie so wollen, ja. Aber dann müsste es heißen war . War die Mutter von Tim.«
    Manzetti rang heftig mit seiner Neugier, die sich immer mehr in den Vordergrund schob. »Wieso war?«
    Nina winkte ab. »Später. Lassen Sie uns einfach die Fakten nacheinander betrachten. Dann können wir nichts vergessen.«
    »Einverstanden.«
    »Oxana war eine Leihmutter, hatte also im Auftrag eines deutschen Ehepaares ein Kind ausgetragen.«
    »Aber«, warf Manzetti ein und hob sofort entschuldigend die Hände. »Ist Leihmutterschaft in Deutschland nicht verboten?«
    »Ja. Deshalb gehen ja solche Pärchen nach Russland oder auch nach Indien oder in die Ukraine. Je nachdem, wo es gerade am billigsten ist.«
    Er starrte ungläubig auf das Muster der Tischdecke. Wie konnte man Liebe zu einem Kind entwickeln, das das Produkt eines Geschäfts war, noch dazu eines möglichst billigen? Er schüttelte nur den Kopf.
    Nachdem Nina einen Schluck getrunken hatte, setzte sie ihre Erläuterungen fort. »Dieses deutsche Pärchen wandte sich also an eine Agentur in Russland, die dann die Details vermittelte. Oxana bekam die befruchtete Eizelle eingesetzt und trug das Kind aus.«
    »Und warum lebt Tim dann nicht bei diesen … diesen Eltern?«
    »Das ist eine sehr gute Frage, und damit nähern wir uns auch schon der größten Sauerei, der ich bislang in meinem Leben begegnet bin. Noch dazu von Menschen fabriziert, die sonntags in die Kirche rennen und mit Fingern auf diejenigen zeigen, die den Gotteshäusern fernbleiben.«
    Manzetti zog seinen kleinen Block aus der Innentasche des Sakkos und begann, sich Notizen zu machen. Dann stellte er noch eine Frage, die eigentlich eine Behauptung war. »Ich nehme an, diese so genannten Eltern wollten das Kind plötzlich nicht mehr.«
    »Richtig. Das Kind hatte mittlerweile einen

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