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Havelsymphonie (German Edition)

Havelsymphonie (German Edition)

Titel: Havelsymphonie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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befürchten, dass sie nach Deutschland zurückgekehrt und zur Mörderin geworden ist. Würden Sie ihr das zutrauen?“
    „Das ist eine schwierige Frage, Herr Manzetti.“
    Das wusste er selbst. Es war nicht nur fünfzig Jahre her, dass sich die beiden Frauen begegnet waren, es war für Ingeborg Kluge auch eine Frage der Loyalität gegenüber einer ehemaligen Leidensgenossin. „Wir haben zwei tote Frauen, beide an ihrem dreißigsten Geburtstag ermordet, beide in Kleider gesteckt, wie man sie in der Oesterholzstraße getragen hat, und beide, jedenfalls vermuten wir das, beide mit Bezügen zu La Bohème.“
    „Wer sind die Eltern dieser jungen Frauen?“ Das Lächeln, mit dem sie ihre Frage garnierte, verriet, dass sie womöglich ihren eigenen Gedanken erhellend fand.
    „Die Tochter eines Richters und die einer Jugendamtsmitarbeiterin.“
    „Dann hat sie es doch getan. Ich sagte Ihnen ja, die Gila war anders als wir anderen Mädchen.“
    „Worin unterschied sie sich von Ihnen, und was hat sie doch getan , wie Sie eben bemerkten?“
    „Als die Gila ins Heim kam, war sie schon siebzehn. Sie war also drei Jahre älter als ich, und sie war schwanger. Nach der Geburt ihrer kleinen Tochter hat man ihr das Kind sofort weggenommen. Sie durfte es nicht einmal sehen, geschweige denn an die Brust drücken.“
    „Und da hat sie geschworen, dass sie den Tätern das Gleiche antun werde, was die ihr angetan hatten?“
    Sie nickte. „Ja. Genau das waren ihre Worte.“
    „Wissen Sie, warum Gisela Goldberg in dieses Heim kam?“
    „Das weiß ich nicht mehr so genau, aber sicherlich aus dem gleichen Grund wie wir anderen auch.“ Sie setzte sich bequemer in ihren Stuhl und faltete ihre Hände im Schoß. „Ich wuchs in einer kleinen Beamtenstadt auf, aus der ich nur raus wollte. Ich war sogar ganz gut in der Schule, nur Einsen und Zweien, aber ich wollte trotzdem weg. Wohin wusste ich nicht, und bestimmt auch nicht so genau warum, aber raus, einfach raus aus dem Mief, etwas anderes sehen. Und weil mir das nicht gelang, wurde ich immer aufsässiger, schwänzte die Schule, hörte auf niemanden und nichts mehr. Ich wollte einfach cool sein, wie man es heute ausdrücken würde.“ Ihre Augen glänzten.
    „Und das gefiel Frau Göhring nicht, oder?“, unterbrach Manzetti in Erinnerung an die ersten Seiten des Tagebuches.
    „So kann man das wohl sagen. Aber Frau Göhring war kein Einzelfall. Es war kurz nach dem Krieg und viele von denen, die schon zur Nazizeit in den Amtsstuben saßen, hockten gleich nach Kriegsende wieder dort. Mit all ihren Gedanken und Vorstellungen und teilweise mit denselben Vorschriften, nur mit anderen Parteiabzeichen.“
    „Wie erging es Ihnen, als Sie in das Heim kamen?“
    Sie musste schlucken, war plötzlich den Tränen nahe. „Die Göhring hatte mich zu einem Richter gebracht, der mich nicht einmal anhörte. Von da brachte sie mich auf dem direkten Weg nach Dortmund in das geschlossene Vincenzheim. Und da schlugen die Schwestern im wahrsten Sinne des Wortes sofort zu.“
    Die Tränen waren nun in ihre Augen gestiegen, sie sah Manzetti an, der vollkommen steif auf seinem Stuhl saß. „Gisela war schon zwei Wochen vor mir eingeliefert worden. Sie hatte also bereits Erfahrungen mit den Stöcken der Schwestern gemacht und konnte mich in die Regeln einweisen. Es war gut, sie an meiner Seite zu wissen. Ich habe das alles bis heute nicht verarbeitet, Herr Manzetti. Es waren Teufel.“ Sie machte eine kurze Pause, um sich die Nase zu schnäuzen.
    „Jede Verfehlung wurde umgehend bestraft, auch solche, die gar keine waren. Wer unerlaubt sprach, wurde sofort verprügelt. Es gab Hiebe und Tritte in den Rücken und in die Rippen. So ging es auch mir am ersten Tag. Nur weil ich an der Wand lehnte, wurde mir solange ein Teppichklopfer auf den Rücken geschlagen, bis der brach … Gila hat die Wunden dann mit einem nassen Lappen behandelt und mich getröstet. Sie war die einzige, die stark war, aber auch sie bekam Prügel, obwohl sie hochschwanger war.“
    „Aber es waren doch Nonnen, Frauen der Kirche.“ Manzettis Protest erstickte im eigenen Kehlkopf.
    „Ja, es waren Nonnen. Knallhart und zu allem bereit. Aber alles im Namen des Herrn. So waren auch die Gottesdienste in der Hauskapelle Pflicht. Ich als Neuling musste auf die Empore. Unter mir sah ich andere Mädchen mit rasierten Schädeln. Das waren die, die versucht hatten, auszureißen. Sie wurden als Sünderinnen verschrien.“
    „Hat sich niemand von

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