Havelsymphonie (German Edition)
geholt. Blut ist nämlich dicker als Wasser.“
„Kann schon sein. Sie war zu der Zeit ja bereits in den USA … Jedenfalls glauben wir das, obwohl es dafür keinen offiziellen Beleg gibt. Unterdessen wuchs Franziska in diesem Heim auf und war nach ihrer Entlassung mehr beim Psychotherapeuten, als auf ihrer Arbeitsstelle.“
„Das wäre wohl jeder, der in solch einer Anstalt groß geworden ist, nach all dem, was du mir bislang über die Zustände in diesen sogenannten Kinderheimen erzählt hast.“
„Aber genutzt hat die Therapie offensichtlich nichts, denn an ihrem dreißigsten Geburtstag hat sie sich einen Brieföffner in die Brust gestochen und ist qualvoll verblutet. Obwohl sie aus ihrer kurzen Ehe mit Silbermann ihren Sohn Frank hatte, der da schon acht war und sich heute Elliott nennt.“ Manzetti stand auf. „Blut ist eben doch nicht immer dicker als Wasser.“
„Die Frau war psychisch instabil, Andrea. Das kannst du mit einer normalen Mutterschaft nicht vergleichen.“
„Wie dem auch sei. Jedenfalls ist Gisela Goldberg für mich die Hauptverdächtige, und deshalb suchen wir nach ihr.“
Kerstins Wissensdurst war noch nicht gestillt, weshalb sie sich geschickt zwischen ihren Mann und die Tür zum Flur stellte. „Was sollte sie für ein Motiv haben?“
„Hass. Unbändigen Hass.“
Kerstin schwieg eine Weile. Sie schien nachzudenken. Dann stellte sie ihre nächste Frage. „Worauf? Wen sollte sie hassen?“
„Sie hat Hass auf alles. Sie war siebzehn, als sie in das Heim kam. Eine junge Frau, die gerade erst aufzublühen begann, und die schon als gefallenes Mädchen galt. Dann nahm man ihr das Kind weg und demütigte sie durch Schläge und andere drastische Strafen. Für Dinge, bei denen man heute nicht mal mehr den Zeigefinger erheben würde. Schließlich kam sie aus diesem Heim heraus und suchte ihre Tochter, allerdings vergebens. Und nun rächt sie sich an denen, die sie für den Tod ihrer Tochter verantwortlich macht. Sie hatte zu Richter Reinhard gesagt, dass sie ihm das Gleiche antun werde, wie er ihr angetan hat. Und nach ihrer Überzeugung hat er ihr die Tochter genommen.“
„Das wirft sie auch der Mutter von Birgit Walter, dem ersten Opfer vor, oder?“
„Ja. Marianne Walter war damals die zuständige Jugendamtsmitarbeiterin.“
„Und warum ist Gisela Goldberg in die USA ausgewandert?“ Kerstin fragte wie ein professioneller Vernehmer.
„So viel wir wissen, verliebte sie sich in einen GI und folgte dem nach Amerika.“ Manzetti machte eine kurze Pause und ging dann zurück in die Küche, wo er sich eine Mandarine nahm.
„Und?“
„Nichts und. Da ist sie nie angekommen. Jedenfalls nicht offiziell.“
„Und dafür habt ihr keine Erklärung?“
„Nein, haben wir nicht.“
Kerstin setzte sich wieder, zog die Beine ganz fest an den Körper und schlang die Arme um die Unterschenkel. „Was, wenn sie gar nicht als Gisela Goldberg, sondern mit einem anderen Namen eingewandert ist?“
Manzetti guckte skeptisch. „Und den hat sie sich unterwegs ausgedacht und im Flieger gleich noch den Pass gefälscht, oder was?“ Er schüttelte den Kopf. Das schien ihm nun doch zu weit hergeholt.
„Ich bin auch mal als Fräulein Becher nach Italien geflogen und als Frau Manzetti wieder in Berlin gelandet. Du erinnerst dich?“
Das war ein interessanter Einwurf, weshalb er es für ratsam hielt, seiner Frau gedanklich zu folgen. Das tat er, während er ihr ein Stück Mandarine in den Mund steckte. „Aber im Flieger kann man nicht heiraten“, warf er ein.
„Sind sie überhaupt geflogen? Wenn ich mich richtig erinnere, dann reden wir von 1962 oder so.“
„1965.“
„Meinetwegen. Aber auch 1965 flog man noch nicht so häufig wie heute. Außerdem war ihr GI bestimmt nicht anders gestrickt als die übrigen Amerikaner, für die es das Größte ist, ein deutsches Auto zu fahren. Und was lässt ein richtiger Mann nicht aus den Augen?“
Manzetti schwieg.
„Sein Auto. Also sind sie mit dem Schiff in die USA gefahren, da konnte er seinen Mercedes als Fracht gleich mitnehmen. Und was kann man auf Schiffen machen?“
Jetzt fiel bei ihm endlich der Groschen. „Heiraten.“
Er drückte seiner Frau einen dicken Kuss auf den Mund und strahlte über das ganze Gesicht. „Ich sagte doch, dass ich deine Klugheit schätze.“
*
Manzetti telefonierte und ging dann zum Bahnhof, wo er in eine Regionalbahn stieg, die aus nur zwei Waggons bestand und die ihn in gut einer Dreiviertelstunde die
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