Havelsymphonie (German Edition)
außerhalb gegen dieses … dieses Regime zur Wehr gesetzt?“
„Wie denn? Nach außen waren wir fast hermetisch abgeriegelt. Telefonieren war streng verboten, und die Post wurde von den Nonnen gelesen und zensiert. Viele Briefe kamen gar nicht erst an. Außerdem ist Zivilcourage ein französisches Wort, Herr Manzetti. Kein deutsches. Und wer damals noch immer damit beschäftigt war, das dritte Reich zu verdrängen, der hatte kein Auge für neue Schandtaten.“
Manzetti schüttelte nur noch den Kopf.
„Nonnen sind im Namen ihres Glaubens zu ganz perversen Spielen fähig, Herr Manzetti.“ Sie schob einen Jackenärmel hoch und zeigte ihm ihr Handgelenk. Es war mit Narben übersäht.
„Sie wollten sich also auch das Leben nehmen?“
„Nein“, sagte sie und ließ die Arme wieder in den Schoß sinken. „Das sind Wundmale wie bei Resl von Konnersreuth, einer inzwischen verstorbenen bayerischen Bauernmagd, die nach 1926 immer wieder von selbst an ihrem Körper entstanden sein sollen, bevorzugt am Karfreitag. Und natürlich an den Stellen, wo man sie auch Christus beigebracht hatte.“ Sie hielt kurz inne und lächelte dabei sogar. „Keine Angst, meinen nackten Oberkörper erspare ich Ihnen.“ Dann wurde sie wieder ernster. „Und eine Nonne hatte es sich in den Kopf gesetzt, uns auch das famose Gefühl solcher Stigmata angedeihen zu lassen. Dazu schlug sie mit einem Bambusstock solange auf unsere Handgelenke, bis sie bluteten.“
Manzetti lockerte seine Krawatte und holte tief Luft. „Und Gisela, wie hat sie das alles ertragen?“
Ingeborg Kluge wartete einen Moment, bevor sie antwortete. „Sie hat es ertragen, und wenn Sie sich fragen wie ...“ Sie beugte sich zum Schreibtisch vor und hob das Tagebuch hoch. „Nehmen Sie es wieder mit und lesen Sie es. Dann verstehen Sie Gisela – und natürlich auch uns andere.“
„Frau Kluge, trauen Sie Gisela Goldberg zu, die beiden Frauen getötet zu haben?“
Sie hielt noch immer das Tagebuch vor Manzetti. „Es hätte jede von uns sein können.“
*
„Wo ist er?“ Manzetti marschierte nervös vor dem uniformierten Kollegen auf und ab, seine Aktentasche noch immer in der Hand.
„In der Zelle, wo sonst?“, bekam er zur Antwort.
„Ich gehe jetzt in mein Büro, und dahin bringt ihr ihn mir in zehn Minuten.“
Die Nachricht von der Festnahme Elliott Silbermanns hatte ihn im Regionalzug aus Rathenow erreicht und hatte ihn in einen Zustand höchster Erregung versetzt.
Jetzt ging er in sein Büro und öffnete dort eine Schublade des Schreibtisches, nahm einen Block liniertes Papier heraus und legte ihn vor sich hin. Dann ging er zu der kleinen Stereoanlage, suchte im Stapel der CDs nach einer ganz bestimmten, nahm sich die Fernbedienung und setzte sich hinter den Schreibtisch. Er war gewappnet, bereit für Elliott Silbermann.
Der uniformierte Kollege klopfte nicht an. Er öffnete einfach die Tür und schob Silbermann vor sich her ins Büro des Hauptkommissars.
„Sollen die Handschellen dranbleiben?“
Manzetti schüttelte den Kopf. Dann ratschte es zweimal und kurz darauf verschwand der Kollege wortlos durch die Tür.
„Setzen Sie sich.“ Manzetti schaute auf den jungen Mann, der einiges von seiner früheren Selbstsicherheit eingebüßt hatte, aber noch immer ein Fünkchen Arroganz besaß. Silbermann rieb sich die geröteten Handgelenke, sagte aber nichts, was in dieser Situation ungewöhnlich war. Meistens beschwerten sich die Festgenommenen darüber, dass die Handschellen zu eng angelegt worden seien und durch die Haut zu schneiden begännen. Elliott Silbermann aber schwieg. Er sah unentwegt auf seine Hände, die weiter seine Handgelenke rieben.
Manzetti drückte auf den grünen Knopf der Fernbedienung und regelte die Lautstärke weit auf.
Bada ba bam – kam es aus dem Lautsprecher.
Bada ba bam.
„Sie kennen die Musik?“
Silbermann schüttelte den Kopf.
„Doch. Sie kennen die Musik. Hören Sie genau hin. Puccini, La Bohème, erster Akt.“
Bada ba bam.
„Sie haben einige Semester klassische Musik studiert, Herr Silbermann. Erinnern Sie sich jetzt? … Ist es nicht so, dass für das Herausarbeiten von unterschiedlichen Stimmungen zwar der Dirigent verantwortlich ist, dennoch die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten einer jeden Passage von jedem einzelnen Musiker beherrscht werden müssen? Das ist doch so, oder? … Sie müssen das kennen, wo Sie doch aus einer Künstlerfamilie stammen, oder irre ich mich da?“
Silbermann reagierte
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