Havelsymphonie (German Edition)
sah an ihr hinunter, jedenfalls so weit, wie es der große Tisch zuließ. Was liebte er noch an ihr, heute und vor zwanzig Jahren?
Sie folgte seinem Blick, bis der auf ihre Brüste gerichtet war. „Komm mir jetzt bloß nicht mit Äußerlichkeiten.“
„Nicht?“
„Nein!“ Ihre Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen, obwohl die Mundwinkel ihr das Aussehen eines Unschuldslamms gaben.
Was sollte er jetzt sagen? Am besten die Wahrheit. „Deine Klugheit … Ja, deine Klugheit schätze ich auch noch an dir.“
„So, so.“
„Na ja. Du bist immer so … so … du findest immer die beste Lösung für uns alle.“ Er sah sich um, wie man es tut, wenn man nicht sicher ist, ob jemand anderes zuhört. Dann sah er seine Frau über den Rand der Kaffeetasse an.
„Findest du also. Aha“, stellte Kerstin fest und legte den Kopf leicht schief.
Er nickte.
„Gut, dann rate ich dir: Lass Lara noch ein bisschen Zeit“, forderte sie plötzlich. Es traf ihn wie ein Pistolenschuss.
„Wofür? Hat sie nicht genug gebockt? Ich denke …“
„Lass ihr einfach noch Zeit. Schließlich hast du in ihren Sachen herumgestöbert und nicht sie in deinen. Und nicht sie hat dir etwas Delikates unterstellt.“
Er sagte nichts dazu, denn da war es wieder, jenes Basta, das wenig gebraucht wurde im Hause Manzetti, dafür aber in der Familie für jedermann mit drei Ausrufezeichen versehen war, selbst wenn Kerstin es zwischen den Zeilen versteckte.
„Ich muss los.“ Er erhob sich schnell und stellte seine Tasse auf den Geschirrspüler.
„Wenn du auf den großen Knopf drückst, geht er auf.“ Sie stand auf und hielt ihm ihre leere Tasse hin.
„Wer?“
„Der Geschirrspüler. Wenn du auf den großen Knopf drückst, öffnet sich seine Tür.“
Er nahm ihre Tasse und stellte sie neben seine in den Geschirrkorb. Dann gab er ihr einen Klaps auf den Po. „Ich muss jetzt wirklich los.“
Als er schon fast im Flur war, begann die CD bereits das zweite Mal ihren Umlauf. Pastorale, Beethovens sechste.
„War er’s?“, fragte Kerstin hinter ihm her.
„Silbermann?“ Manzetti setzte sich wieder an den Tisch.
„Hm.“
„Ich glaube nicht, aber er hat damit zu tun.“
„Inwiefern?“
„Ich glaube, dass die große Unbekannte, die wir Gisela Goldberg nennen, die Mörderin ist, und sie hat auch ein Motiv. Bei Silbermann haben wir keines finden können. Vielleicht hat er ihr nur geholfen, dieses Mal. Zu mehr ist er wohl nicht in der Lage, und für den Mord an Birgit Walter vor fünfzehn Jahren war er noch zu jung.“
„Woher nimmst du deine Gewissheit?“
Das wusste er auch nicht. Er merkte nur, dass seine Überzeugung tief saß. Vielleicht konnte man es Erfahrung nennen. „Er wurde 1979 geboren, war also erst dreizehn.“
„Gut. Und warum hat er jetzt damit zu tun?“ Kerstins Neugier war nicht so leicht zu befriedigen.
„Wir wissen inzwischen, dass Franziska, die Tochter von Gisela Goldberg, Silbermanns Mutter war. Sie war bei seiner Geburt gerade einmal zweiundzwanzig und lebte in schwierigen finanziellen Verhältnissen. Trotzdem wollte sie ihrem kleinen Sohn all das ermöglichen, was ihr selbst gefehlt hatte.“
„Und was war das?“
„Franziska Silbermann war wie gesagt die Tochter jener Gisela Goldberg, die 1957 in ein Kinderheim in Dortmund eingewiesen wurde. Da war Gisela aber schon schwanger mit eben jener Franziska. Perfiderweise hat man ihr den Säugling nach der Geburt sofort weggenommen und in die Obhut des Jugendamtes gebracht, das dann nichts weiter zu tun hatte, als das Kind in die Hände einer Pflegefamilie zu geben. Als Franziska vier Jahre alt war, starben die Pflegeeltern bei einem Autounfall, wobei sie selbst schwer verletzt wurde.“
„Wie schwer?“
„Sie verlor ein Bein, und weil niemand weiter da war, der sich ihrer annehmen wollte, kam sie in das Heim zurück, in dem sie auch geboren worden und aus dem ihre Mutter aber bereits entlassen war, und musste dort bis zu ihrer Volljährigkeit bleiben.“
„Weil sie mit dem Handicap niemand mehr wollte“, stellte Kerstin mehr für sich als für ihren Mann fest.
„Wahrscheinlich, aber das wissen wir noch nicht genau.“
Kerstin seufzte auf. „Behinderte Kinder werden nur von ihren Eltern geliebt, nicht von anderen.“
„Aber ihre Mutter wollte sie offenbar auch nicht“, hielt er dagegen.
„Bist du dir da so sicher?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht hat sie nur nichts davon gewusst. Sonst hätte sie ihre Tochter zu sich
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