Hawkings neues Universum
beobachtbares Universum bloß eine zufällig entstandene Insel der Ordnung in einem viel größeren Ozean des Chaos wäre – eine statistische Fluktuation, wie der Wiener Physiker Ludwig Boltzmann schon 1895 überlegt hatte –, dann bliebe es dennoch unverständlich, warum diese Fluktuation so langlebig ist. Immerhin sind rund 13,7 Milliarden Jahre seit dem Urknall verstrichen. Viel wahrscheinlicher wäre es, dass die spontane Fluktuation erst letzten Donnerstag oder vielleicht sogar nur vor wenigen Sekunden zustande kam – mit all den Pseudospuren einer vermeintlichen Vergangenheit: die Erinnerungen an frühere Steuererklärungen und Kindergeburtstage, die Fossilien von Dinosauriern, die Meteoriten aus der Anfangszeit des Sonnensystems und die Kosmische Hintergrundstrahlung vom Urknall selbst. Kurz: Ein solches Schwindel-Universum – oder bloß ein einziges Gehirn, in dem sich eine solche Pseudowelt manifestiert – sollte sich sehr, sehr viel häufiger zufällig bilden als ein hoch strukturiertes, geordnetes Weltall von mindestens 100 Milliarden Lichtjahren Durchmesser. Diesen oft übersehenen Einwand brachte übrigens bereits 1939 der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker vor.
Ordnung aus dem Chaos: Auch wenn ein System im Zustand der maximalen Unordnung – also Entropie – ist, entstehen in sehr langen Zeiträumen durch zufällige Prozesse vorübergehend „Inseln der Ordnung“ und somit lokale Zeitrichtungen (Punkt C in der Kurve). Immer wieder wurde daher spekuliert, dass das gesamte beobachtbare Universum eine solche Insel inmitten des Chaos ist. Intelligente Beobachter könnten nur in einem solchen „Entropie-Gradienten“ leben (Punkt A). Diese Auffassung hat aber zwei grundlegende Schwierigkeiten: Zum einen wäre es sehr viel wahrscheinlicher, dass alles um A sich eben erst aus dem Chaos gebildet hat (wie bei C) – aber dann wäre die Vergangenheit eine Illusion. Zum anderen würden Lebensformen am Punkt B die Zeitrichtung genau umgekehrt wie bei A erleben.
Man kann aus der Not freilich auch eine Tugend machen. Sean M. Carroll vom California Institute of Technology und Jennifer Chen von der University of Chicago haben genau das getan. Sie argumentierten 2004, dass unser Universum tatsächlich nur eine Fluktuation unter unzähligen ist. Denn der gesamte leere Raum, das Quantenvakuum, enthält noch mehr Entropie als Schwarze Löcher, die nur die maximale Entropie in einem bestimmten Volumen besitzen. Quantengravitationszustände der Raumstruktur hingegen erlauben es, in einem durch Dunkle Energie beschleunigt expandierenden Weltraum eine noch höhere Entropie zu versammeln. Aber ein solches Vakuum bringt immer wieder zufällige Fluktuationen hervor, die durch die Inflation riesig werden, bis sie sich durch die ewige Ausdehnung aufgrund der Dunklen Energie wieder völlig entleeren. Und solche Zyklen, so Carroll und Chen, sind wahrscheinlicher als zufällige Fluktuationen von Dinosauriern und Schwindel-Universen. Bis zur exakt Ewigen Wiederkehr unseres Universums ist freilich viel Geduld erforderlich – 10 10 56 Jahre. Trotzdem gibt es in diesem Szenario keine bevorzugte Zeitrichtung. „Denn in beiden Zeitrichtungen tauchen durch Fluktuationen Babyuniversen auf, entleeren sich und setzen ihrerseits Babys in die Welt. In extrem großem Maßstab sieht ein solches Multiversum im Mittel zeitsymmetrisch aus – sowohl in der Vergangenheit wie in der Zukunft entstehen neue Universen und pflanzen sich unbegrenzt fort. Zu jeden von ihnen gehört ein Zeitpfeil, doch in der Hälfte aller Fälle weist er in die zu den übrigen entgegengesetzte Richtung.“
Wer freilich solche Zyklen auch für Schwindeleien hält, muss die Erklärung für die geringe Entropie des Alls woanders suchen. Anders gesagt: Wenn der Fluss der Zeit kein Zufall ist, dann muss er einer Quelle entspringen.
Quellenkunde und Vergesslichkeit
„Ad fontes“ („zu den Quellen“) – dieser Wahlspruch der Humanisten in der Frühen Neuzeit könnte auch für die modernen Physiker gelten: Um die Richtung der Zeit zu verstehen, müssen sie gleichsam den Ursprung der Zeit ergründen.
Doch so wie die geschichtlichen Quellen oft unvollständig, irreführend und dunkel sind, ist es auch mit der Frühzeit des Universums. Angesichts der viel größeren Zeiträume ist es eine Überraschung, dass sich überhaupt noch etwas erhalten hat – und dass Kosmologen es teilweise entschlüsseln können.
Freilich hat das beobachtbare Universum viele
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