Hawkings neues Universum
alle sind durch das elastische Band der Zeit miteinander verknüpft. Es ist ratsam, von den Tümpeln der Gezeiten zu den Sternen zu blicken und dann wieder zu den Tümpeln der Gezeiten.
John Steinbeck (1902–1968),
amerikanischer Schriftsteller
Das größte Abenteuer
„Wir haben das Glück, in einem Zeitalter zu leben, in dem noch immer Entdeckungen gemacht werden. Es ist wie mit der Entdeckung Amerikas – man kann es nur einmal entdecken. Das Zeitalter, in dem wir leben, ist das Zeitalter, in dem wir die fundamentalen Naturgesetze entdecken.“ Stephen Hawking zitiert diese Worte gern, weil er völlig mit ihnen übereinstimmt. Der Quantenphysiker Richard Feynman hat sie schon 1965 gesagt – das Jahr, in dem er den Physik-Nobelpreis erhielt –, aber sie haben nichts an Aktualität verloren. Hawking, der 1974/75 ein Forschungsjahr am California Institute of Technology im kalifornischen Pasadena verbrachte, hatte dort oft mit Feynman diskutiert. Und dessen sogenannte Pfadintegral-Methode in der Quantenphysik sollte sich einige Jahre später als essenziell für Hawkings kosmologische Arbeiten erweisen.
„Wir leben in einem seltsamen und wunderbaren Universum. Um es in seinem Alter, seiner Größe, seiner Kraftentfaltung und seiner Schönheit zu würdigen, bedarf es einer außerordentlichen Vorstellungskraft“, begann Hawking sein Buch Die kürzeste Geschichte der Zeit . Diese Vorstellungskraft wird von den Entwicklungen der modernen Kosmologie und Physik aufs Äußerste beansprucht, ja überstrapaziert. Schon die Größe und das Alter des beobachtbaren Universums sprengen jeden Maßstab des Alltagsverstands – auch der Astronomen. Diese können zwar mit „astronomischen Zahlen“ rechnen und jonglieren, das erfordert ja ihr Beruf, aber die kosmischen Ausmaße wirklich zu begreifen, das übersteigt ihr Fassungsvermögen. Und dabei sehen wir selbst beim Blick mit den leistungsfähigsten Teleskopen bis an den Rand des beobachtbaren Weltraums nur einen winzigen Ausschnitt des Universums, in dem wir leben. Und wahrscheinlich ist dieses Universum – womöglich unendlich groß – nur eines unter Myriaden.
Umso erstaunlicher, vielleicht sogar anmaßend, erscheint es, dass einige kleine Kohlenwasserstoff-Aggregate auf der Kruste einer Felskugel, die um einen mittelprächtigen Stern kreist, der sich durch einen entlegenen Winkel einer spiralförmigen Zusammenballung aus Gas und Sternen in einer großen Leere bewegt, diesen gewaltigen Kosmos auszuloten und sogar zu erklären versuchen. Dabei machen diese Kohlenwasserstoff-Aggregate, die sich Menschen nennen, subtile Messungen, die ihre natürlichen Sinne weit übertreffen. Und sie denken sich Theorien aus, die den Kleinmut und -geist, der auf ihrem bunten Planeten herrscht, sowie die kindischen Märchen, die allzu oft der Angst, der Sehnsucht oder dem Machtwillen geschuldet sind, weit hinter sich zurücklassen. Diese kühnen Konstruktionen, nicht selten selbst Verzweiflungstaten eines nach Ordnung strebenden Denkens, führen häufig in die Irre. Aber sie sind kein bloßes Glasperlenspiel oder ein beliebiges Geschwätz, denn sie müssen sich am Universum selbst bewähren. Darin besteht auch der Triumph der wissenschaftlichen Rationalität: nicht blindlings den Dogmen und Ideologien zu folgen, sondern in beständiger kritischer Reflektion das Wechselspiel von Erfahrung und Hypothesen voranzutreiben und aus den Fehlern zu lernen.
Dieser Gegensatz von der Winzigkeit im Kosmos und der Größe des Anspruchs, diesen zu durchschauen, hat auch Murray Gell-Mann fasziniert, der für seine Arbeiten zum heutigen Standardmodell der Materie mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet wurde. „Die Suche nach dem Geheimnis des Universums, wie es funktioniert und entstand, ist das längste und größte Abenteuer in der Geschichte der Menschheit“, meint er. „Es ist kaum zu fassen, dass sich ein paar Bewohner eines kleinen Planeten, der einen unbedeutenden Stern in einer kleinen Galaxie umkreist, vorgenommen haben, das gesamte Universum vollständig zu verstehen. Da glaubt ein winziges Körnchen der Schöpfung wirklich und wahrhaftig, es sei fähig, das Ganze zu begreifen.“
Die kosmische Vertreibung
Die menschliche Kulturgeschichte kann ohne Übertreibung als eine der kosmischen Vertreibung gelesen werden. Der Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies ist ein früher und besonders charakteristischer Prototyp für alles, was dann kam. Er drückt auch die ersehnte und nun
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