Hawkings neues Universum
verloren gewähnte Geborgenheit und Einheit aus, die der Mensch in teilweise aberwitzigen intellektuellen Verrenkungen und irrationalen Glaubenssystemen herbeizubeschwören versucht hat und immer noch versucht.
Die kosmologische Variante des Einheitsverlusts, von dem Psychoanalytiker Sigmund Freud sogar als die erste große Kränkung der Menschheit bezeichnet, ist das Ende des Geozentrismus – der freilich mitunter bloß Ausdruck und Folge eines anthropozentrischen Mittelpunktswahns war. Die Vorstellung von Paralleluniversen, die mittlerweile ernsthaft diskutiert wird, ist gleichsam das äußerste Ende dieser Vertreibung und der Relativierung der menschlichen Stellung im All. Doch was dem Größenwahn als Demütigung vorkommen muss, ist auch eine Erfolgsgeschichte der Wissenschaft – ein Zeugnis der menschlichen Horizonterweiterung von der engen Perspektive der terrestrischen Wälder und Savannen bis zum Einblick in ein sich immer schneller ausdehnendes, womöglich unendlich großes Universum. Insofern sind die Spekulationen über andere Universen gleichsam Höhe- und Schlusspunkt der Entwicklung eines kühnen Denkens und Naturverständnisses, das die Fesseln einer notwendigerweise provinziellen Herkunft zu sprengen vermocht hat.
Gott wird obdachlos
Das geozentrische Weltbild, wonach die Erde im Mittelpunkt des Weltalls steht, ist uralt – aber selbst eine intellektuelle Errungenschaft, setzt sie doch bereits ein gewisses Verständnis voraus, um sich vorzustellen, dass die Erde nicht alles, sondern eine Einheit ist, eine Welt für sich inmitten anderer. Es war der Philosoph Anaximander, der im 6. Jahrhundert v. Chr., vor über 2500 Jahren behauptete, die Erde ruhe nicht auf etwas, sondern schwebe frei. Anaximander kam wie sein Lehrer Thales aus Milet, einer Stadt an der Westküste Kleinasiens in der heutigen Türkei. Sie gilt als Geburtsstätte der Wissenschaft. Dort begann Thales, der erste bekannte abendländische Philosoph, sich von den Weltdeutungen der Mythologien zu lösen und nach rationalen Erklärungen zu suchen. Die Erde sei eine Kugel, um die der Mond kreist, lehrten später Pythagoras und Parmenides. Und der Mond leuchte nicht selbst, sondern reflektiere das Licht der Sonne, ergänzte Anaxagoras, der sie für einen riesigen glühenden Stein hielt. Diese (und viele andere) Gedanken machten die sogenannten vorsokratischen Philosophen zu echten Naturphilosophen, die die Natur der Dinge nicht durch überweltlichen Hokuspokus oder allerhand Gottheiten zu erklären versuchten und insofern als Vorläufer der modernen Naturwissenschaft gelten können.
Dass die Erde der Mittelpunkt des Alls sei, haben bereits Eudoxos von Knidos und Apollonios von Perge im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. gelehrt. Im mathematisch ausgearbeiteten Weltmodell von Claudius Ptolemäus (vor 140 v. Chr.) fand das geozentrische Weltbild dann seinen endgültigen und über tausend Jahre bestehenden Niederschlag. Dabei hatte schon Aristarch von Samos im 3. Jahrhundert v. Chr. behauptet, nicht die Erde, sondern die Sonne stünde im Mittelpunkt des Universums. Er war es auch, der sich erstmals an kosmische Entfernungsbestimmungen wagte und schätzte, dass die Sonne zwanzig Mal so weit entfernt sei wie der Mond und sechs bis sieben Mal so groß sei wie die Erde. (Tatsächlich ist sie knapp vierhundertmal so weit weg und mehr als hundertmal so groß.)
Doch erst in den Jahren 1514 und 1543 wurde mit den Schriften von Nikolaus Kopernikus, der Aristarch würdigte, das heliozentrische Weltbild ein ernsthafter Konkurrent zum irdischen Mittelpunktsglaube. Und mit Johannes Keplers Erkenntnis von 1609, dass die Planeten nicht auf Kreis-, sondern Ellipsenbahnen die Sonne umrunden, war auch die mathematische Beschreibung exakt erfolgreich. Damit wurden die kristallenen Sphären, die – in der auf Aristoteles zurückgehenden Vorstellung – als Ort der Planetenbahnen die Erde kugelschalenförmig umgaben, gleichsam zerschlagen, und die Erde taumelte ruhelos durchs All.
Was zunächst bloß als besseres Rechenmodell gedacht war, setzte sich allmählich und trotz heftiger kirchlicher Widerstände als das angemessenere Weltmodell durch. Die kosmische Vertreibung hatte nicht nur weitreichende anthropologische, sondern auch theologische Konsequenzen: Sie betraf nicht nur den Menschen, sondern auch den Gott, den er sich ersonnen hatte – galt die ruhende Erde bis dahin doch als Fußschemel Gottes. Weil Gott Aristoteles zufolge sein eigentliches
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