Hawkings neues Universum
abdecken, wenn man ihn – wie bislang lediglich zwölf Männer zwischen 1969 und 1972 es konnten – von der staubigen Oberfläche seines kraternarbigen Trabanten aus betrachtet. Bei noch größerer Entfernung ist der „pale blue dot“ (Carl Sagan), das blassblaue Pünktchen, ein fahl schimmerndes Gestirn unter Myriaden von anderen. Diese Perspektive haben erst Raumsonden ein- und aufgenommen, die zu den äußeren Planeten im Sonnensystem reisten.
Die Erde ist ein Leben spendendes Raumschiff, das mit 29,78 Kilometer pro Sekunde (107.200 Kilometer pro Stunde!) um die Sonne rast, mit dieser beim über 220 Millionen Jahre dauernden Umlauf um das Zentrum der Milchstraße mit knapp 220 Kilometer pro Sekunde in Richtung eines Punkts südwestlich der Wega im Sternbild Leier zustrebt, mitsamt der Milchstraße und ihren Nachbargalaxien mit rund 600 Kilometer pro Sekunde in Richtung des Großen Attraktors gezogen wird, eines 200 Millionen Lichtjahre entfernten gewaltigen Galaxiensuperhaufens in den Sternbildern Wasserschlange und Zentaur, und sich relativ zur Kosmischen Hintergrundstrahlung, dem „Restleuchten des Urknalls“, mit 390 Kilometer pro Sekunde in Richtung Sternbild Löwe bewegt – das alles eingebettet in die seit dem Urknall anhaltende und sich inzwischen sogar beschleunigende kosmische Expansion, die Ausdehnung des Weltraums.
Diese kosmische Dynamik hat, wie die Größenverhältnisse im All und die Vertreibung aus dem vermeintlichen Nabel der Welt, auch eine existenzielle Dimension. „Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten“, heißt es in Also sprach Zarathustra von Friedrich Nietzsche, „er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkt weg, wohin, ins Nichts, ins durchbohrende Gefühl seines Nichts?“
Gefangen zwischen Unendlichkeiten
„Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“ Auch diese Worte stammen von dem Philosophen Friedrich Nietzsche (aus Die fröhliche Wissenschaft von 1882), der damit die radikale Veränderung des Weltbilds in poetischer Wucht zum Ausdruck gebracht hat.
Schon Blaise Pascal hat die existenzielle Dimension der kosmischen Horizonterweiterung klar erkannt: „Ringsum sehe ich nichts als Unendlichkeiten, die mich wie ein Atom, wie einen Schatten umschließen, der nur einen Augenblick dauert ohne Wiederkehr“, schrieb der französische Philosoph und Mathematiker in seinen Gedanken bereits um 1669. „Bedenke ich die kurze Dauer meines Lebens, aufgezehrt von der Ewigkeit vorher und nachher; bedenke ich das bisschen Raum, den ich einnehme, und selbst den, den ich sehe, verschlungen von der unendlichen Weite der Räume, von denen ich nichts weiß und die von mir nichts wissen, dann erschaudere ich und staune, dass ich hier und nicht dort bin; keinen Grund gibt es, weshalb ich grade hier und nicht dort bin, weshalb jetzt und nicht dann.“ Und weiter: „Die ganze sichtbare Welt ist nur ein unmerklicher Zug in der weiten Höhlung des Alls. Keinerlei Begreifen kommt ihr nahe. Wir können unsere Vorstellungen von ihr aufblähen über die letzt denkbaren Räume hinaus, was wir zeugen, sind, verglichen mit der Wirklichkeit der Dinge, Winzigkeiten. [...] was ist zum Schluss der Mensch in der Natur? Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All. [...] er ist gleich unfähig, das Nichts zu fassen, aus dem er gehoben, wie das Unendliche, das ihn verschlingt.“
Die gigantischen Größenordnungen der modernen Kosmologie mögen mit Unglauben, Verstörung oder Melancholie aufgenommen werden. Aber sie haben noch eine weitere Facette, die man begrüßen sollte: Denn aus Bescheid wissen kann Bescheidenheit erwachsen, und nicht nur angesichts der Ewigkeit, sondern konkreter auch angesichts der kosmischen Winzigkeit unseres Planeten müssten selbst die größten Egomanen und Ideologen erkennen, würden sie (es) denn erkennen, dass die Erde „viel zu klein ist, um sich auf ihr oder um sie zu streiten“ (Clark Darlton), und dass wir alle Terraner sind – Erdlinge (was weniger großspurig klingt als Weltbürger oder
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