Hawkings neues Universum
Labor extrem gut abgeschirmt sind – doch das Universum als Ganzes bleibt nach wie vor in der Superposition. Durch die Dekohärenz, die Wechselwirkung mit der Umwelt, vergrößert sich die Superposition sogar, so dass wir beispielsweise einen eindeutigen Katzen-Zustand wahrnehmen. Aber das verschiebt das Messproblem nur, denn letztlich müsste sich dann das ganze Universum in einem gespenstischen Überlagerungszustand aus allen Möglichkeiten befinden: in einer universellen Interferenz. Damit stellt sich die Frage, ob die verschiedenen Historien gleichermaßen real sind – ähnlich wie in der Viele-Welten-Interpretation Everetts. „Man kann diese Aussage hinzufügen oder weglassen“, antwortet Hartle. „Es hängt davon ab, was man unter ‚real‘ versteht. Die Annahme beeinflusst nicht die Vorhersagekraft der Theorie. Daher bevorzuge ich es, die Aussage nicht hinzuzufügen, denn das vereinfacht die Diskussion.“ Insofern ist Hartle Pragmatiker oder Positivist. Und weiter: „Es wird nicht eine einzigartige Historie vorhergesagt, sondern eine Familie von Historien mit verschiedenen Wahrscheinlichkeiten. Die Quantentheorie unterscheidet also nicht zwischen den unterschiedlichen möglichen Historien außer hinsichtlich deren Wahrscheinlichkeit.“
Allerdings sind viele Historien nicht wohldefiniert, kritisiert unter anderem Fay Dowker vom Perimeter Institute im kanadischen Waterloo. Weitere Bedingungen seien nötig, um die Klasse der dekohärenten Familien einzuschränken. Die Interpretation sei deshalb mehr ein Forschungsprogramm als eine Theorie. Hartle entgegnet: „Es gibt weder innere Widersprüche noch solche mit den Experimenten. Sicherlich mag man mehr fordern – etwa eine Spezifikation, welche der vielen Möglichkeiten wirklich geschieht. Die Viele-Historien-Interpretation tut dies nicht, weil es viele unvereinbare Mengen von Geschichten in der Quanten-Realität gibt. Es wäre interessant, wenn es konkurrierende Theorien gäbe. Aber unser Ansatz ist allgemein genug, um einen Rahmen für die moderne Physik zu liefern, Quantengravitation und Kosmologie eingeschlossen. Die dürfen wir nicht aufschieben, bis vielleicht einmal eine Formulierung der Quantentheorie existiert, die theoretische Vorurteile besser befriedigt. Wie schon Theodore Roosevelt sagte: „Man muss tun, was man kann, mit dem, was man hat und wo man ist.“
Außerdem stellt sich die Frage nach der Eindeutigkeit der Vergangenheit. „In der Quantenphysik gibt es viele andere, miteinander unvereinbare Vergangenheiten“, meint Hartle. Könnte eine tote Katze also vor fünf Minuten tot und gleichzeitig, in einer anderen Historie, lebendig gewesen sein? Zumindest gibt es für beide Alternativen eine bestimmte Wahrscheinlichkeit. Die Möglichkeit einer unbestimmten Vergangenheit ist für viele allerdings schwer zu schlucken. „Das wäre ein totales Desaster“, sagt Tim Maudlin, Philosophie-Professor an der Rutgers University in New Brunswick. Lee Smolin vom Perimeter Institute im kanadischen Waterloo widerspricht: „Es wäre eine tiefgründige Entdeckung.“
Neue Pfade in der Kosmologie
Die Viele-Historien-Interpretation der Quantentheorie ist gleichsam die Arena für die Quantenkosmologie von Stephen Hawking und James Hartle. Tatsächlich war der schon vorher entwickelte Hartle-Hawking-Ansatz sogar eine entscheidende Motivationsquelle für die Entwicklung der Viele-Historien-Interpretation. Denn ohne eine Deutung der Quantentheorie hängt die Quantenkosmologie in gewisser Weise in der Luft. Um sie zum Atmen zu bringen, bedarf es aber mehr. Es ist die Pfadintegral-Methode, mit der Hawking und Hartle für frische Luft in der Kosmologie sorgten.
Die Pfadintegral-Methode wurde 1948 von Richard Feynman entwickelt und ist eine mathematische Formulierung der Quantentheorie, die äquivalent ist zu den Formulierungen von Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger, in mancher Hinsicht aber praktischer anzuwenden. Die Grundidee dahinter ist einfach: In der klassischen Physik legt ein Teilchen genau einen Weg zwischen zwei Punkten zurück; in der Quantenphysik gibt es dagegen extrem viele Wege, zum Teil sogar sehr verschlungene Pfade, auf denen das Teilchen vom Anfangs- zum Endpunkt gelangt. Diese Wege nimmt es gemäß des Superpositionsprinzips sogar alle gleichermaßen – so wie ein Teilchen im Doppelspalt-Experiment auch durch beide Spalte gelangt, wie das Interferenzmuster auf dem Schirm dahinter zeigt. Die verschiedenen Wege sind zwar
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