Hawkings neues Universum
geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt über ein Relais ein Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert. Hat man dieses ganze System eine Stunde lang sich selbst überlassen, so wird man sich sagen, dass die Katze noch lebt, wenn inzwischen kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall würde sie vergiftet haben. Die Psi-Funktion des ganzen Systems würde das so zum Ausdruck bringen, dass in ihr die lebende und die tote Katze zu gleichen Teilen gemischt oder verschmiert sind.“
Diese Parabel ist nicht nur ein Beispiel, wie unangemessen eine Übertragung mikrophysikalischer Phänomene (beispielsweise der verschmierten Zwitterzustände) auf makroskopische Objekte der Alltagswelt ist (etwa Katzen). Sie verdeutlicht auch die Dringlichkeit der Frage, wie die klassischen makroskopischen Eigenschaften aus der bizarren mikroskopischen Dynamik entstehen und was von dem berüchtigten Kollaps der Wellenfunktion eigentlich zu halten ist. Schrödinger jedenfalls glaubte nicht an die Realität dieses Kollaps, sondern sah dahinter „nur einen bequemen Rechentrick“. Er hielt seine Gleichung für „ein abstraktes, nicht intuitives mathematisches Konstrukt; es ist schwer zu glauben, dass sie die Realität repräsentiert“ – und rief einmal vor lauter Verärgerung: „Wenn die verdammte Quantenspringerei doch wieder anfangen soll, dann tut es mir Leid, die ganze Theorie gemacht zu haben.“
Viele Physiker und Philosophen haben Schrödingers Katze freilich ernst und wörtlich genommen – und sich damit einer subjektivistischen Deutung der Quantentheorie verschrieben, wie sie letztlich auch die Kopenhagener Interpretation ist: Hier spielt der Beobachter eine entscheidende Rolle. Demnach würde die Physik letztlich vom Bewusstsein und nicht von der Materie handeln – ein klassischer Fall von Antirealismus oder Idealismus. Einstein, der sich immer gegen diese Auffassung gewandt hatte und betonte, dass der Mond auch scheint, wenn keiner hinschaut, wäre somit im Irrtum – und der Mond kein selbstständiges Objekt am Himmel, sondern ein mentales Geschöpf. Deshalb verwundert es nicht, dass Stephen Hawking einmal scherzte: „Wenn ich jemanden von Schrödingers Katze sprechen höre, greife ich nach meinem Gewehr.“
Rhizinusöl, „Maul halten“ und Quantenstreit
„Es ist einigermaßen hart zu sehen, dass wir uns immer noch im Stadium der Wickelkinder befinden“, schrieb Albert Einstein 1950 in einem Brief an Erwin Schrödinger. Zu unausgegoren schien ihm – allen experimentellen Erfolgen zum Trotz – die von ihm selbst mitbegründete Quantentheorie. „Vorhersagen sind schwierig – insbesondere wenn sie sich auf die Zukunft beziehen“, kalauerte einst Niels Bohr. Selbst Einstein, sein großer wissenschaftlicher Kontrahent, hat ihm hier nicht widersprochen. Wie die Quantentheorie – oder ihre Deutung – künftig aussehen wird, lässt sich heute nicht sagen. Doch dem Wickelkinder-Stadium ist die Quantenphysik mittlerweile entwachsen. Sie hat, um im Bild zu bleiben, inzwischen die Pubertät erreicht – und da sind Konflikte und Orientierungsprobleme bekanntlich unvermeidbar.
Einer der zentralen Streitpunkte: Ist es wirklich sinnvoll anzunehmen, dass Schrödingers Katze in der Kiste zugleich tot und lebendig ist – oder eben keines von beidem –, solange sie niemand beobachtet? Und lässt sich ein Idealismus tatsächlich durchhalten? Er mag vielleicht philosophisch unwiderlegbar sein, doch erscheint er pragmatisch vollkommen bizarr und selbstwidersprüchlich. Dies zeigt sich, wie der Schriftsteller Robert Musil pointierte, schon daran, „dass man mit einigen Löffeln Rhizinusöl, die man einem Idealisten einflößt, die unbeugsamsten Überzeugungen lächerlich machen kann“.
Viele Physiker sind deshalb nicht länger gewillt, die Kopenhagener Deutung und andere subjektivistische Tendenzen zu akzeptieren und suchen nach neuen, objektivistischen Lösungen. „Die Tatsache, dass eine angemessene philosophische Darstellung so lange dauert, ist zweifelsohne von der Tatsache verursacht, dass Niels Bohr eine ganze Generation von Theoretikern einer Hirnwäsche unterzog, so dass sie dachten, die Arbeit sei doch schon vor 50 Jahren erledigt worden“, klagte Murray Gell-Mann, der heute am Santa-Fe-Institut in New Mexico arbeitet und durch das Quark-Modell der Materie berühmt wurde, in seiner Nobelpreis-Rede bereits 1976. Das zentrale Problem ist also ein hinreichendes Verständnis davon, was
Weitere Kostenlose Bücher