Hawkings neues Universum
Einsatz, um aus der unübersichtlichen Fülle eine Auswahl zu treffen. Dem Anthropischen Prinzip zufolge können wir trivialerweise nur ein Universum beobachten, das die physikalischen Bedingungen besitzt, die für unsere Existenz notwendig sind – also beispielsweise ein ausreichendes Alter, Sterne und Planeten. Das ist aber kein Anthropozentrismus, wie Hawking betont. „Wir sind nur an der Teilmenge jener Geschichten interessiert, in denen sich intelligentes Leben entwickelt. Es muss nicht unbedingt menschliche Züge besitzen. Kleine grüne Außerirdische täten es auch, täten es vielleicht sogar besser. Die Menschheit hat keine sehr gute Bilanz an intelligentem Verhalten aufzuweisen.“
Das Anthropische Prinzip wirkt wie ein Sieb, um von den vielen Historien jene auszuwählen, die für unser Universum relevant sind. Dann stellt sich aber immer noch die Frage, ob das kosmologische Modell solche Geschichten überhaupt beschreiben kann, ob sie also im Pfadintegral enthalten sind und mit welcher Wahrscheinlichkeit. „Jede Geschichte in der Aufsummierung von Möglichkeiten beschreibt nicht nur die Raumzeit, sondern auch die Einzelheiten darin, einschließlich so hochentwickelter Organismen wie der Menschen, die die Geschichte des Universums beobachten können“, betont Hawking. „Das mag eine weitere Rechtfertigung für das Anthropische Prinzip liefern, denn wenn alle Geschichten möglich sind, dann können wir, solange wir in einer der Geschichten vorhanden sind, das Anthropische Prinzip benutzen, um die gegenwärtige Beschaffenheit des Universums zu erklären.“ Diese Argumentation ist freilich problematisch – Hawkings Kritikern zufolge vielleicht sogar ein Zirkelschluss. Trotzdem könnte es andere, wahrscheinlichere Möglichkeiten für den Zustand des Universums geben, also Historien, die mit unserer Existenz unvereinbar sind, doch in diesen könnten wir nicht leben. Insofern treffen wir durch unsere Beobachtungen schon eine Art Vorauswahl, und somit braucht die Historie unseres Universums kein typischer Strang im unvorstellbar reichhaltigen Bündel der Superpositionen zu sein. Es mag genügen, dass und wenn er existiert. Hawking räumt aber ein: „Dieser Aspekt einer Quantentheorie der Gravitation wäre weit befriedigender, wenn sich nachweisen ließe, dass bei der Verwendung der Pfadintegral-Methode unser Universum nicht nur eine der möglichen Geschichten ist, sondern auch eine der wahrscheinlichsten. Dazu müssen wir die Aufsummierung der Möglichkeiten für alle Raumzeiten berechnen, die keine Grenze haben.“
Der Ansatz muss sich durch die astronomischen Messungen bewähren. Aber Hawking führt auch ein theoretisches Argument an. Das klingt manchen Kritikern zufolge wie ein verzweifeltes Eingeständnis, sich an einen rettenden Strohhalm zu klammern – eben weil der Keine-Grenzen-Vorschlag aus der Not eine Tugend macht. Für andere hat der Vorschlag jedoch einen ästhetischen und intellektuell originellen Reiz, weil er gewissermaßen eine „natürliche“ Lösung des Singularitätsproblems darstellt – und schon die Tatsache, dass es eine solche Lösung gibt, darf als wichtige Entdeckung gewertet werden. Hawking hat sein theoretisches Argument wie so oft mit einer großen Portion Schalk und Selbstironie formuliert: „In gewisser Weise ähnelt der Versuch, den Zustand des Universum durch sein Aufsummierung von ausschließlich nichtsingulären Geschichten zu bestimmen, den Bemühungen eines Betrunkenen, der seinen Schlüssel unter einer Laterne sucht: Dort hat er ihn möglicherweise nicht verloren, aber es ist der einzige Ort, an dem er ihn finden kann. Entsprechend ist das Universum vielleicht nicht in einem Zustand, der durch eine Aufsummierung von nichtsingulären Möglichkeiten definiert ist, aber es ist der einzige Zustand, in dem die Wissenschaft vorhersagen kann, wie das Universum sein müsste.“
Die Magie des Imaginären
„In realer Zeit gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder erstreckt sich die Zeit unendlich weit in die Vergangenheit, oder sie beginnt mit einer Singularität“, fasst Hawking die grundlegende Alternative in der modernen Kosmologie zusammen. Diese Unterscheidung zwischen Ewigkeits- und Anfangskosmologien ist nicht neu, sondern wurde und wird in der Philosophie und Theologie seit vielen Jahrhunderten diskutiert; und der Philosoph Immanuel Kant hat sie sogar als eine der – unlösbaren – Antinomien der reinen Vernunft bezeichnet. Hawkings Keine-Grenzen-Vorschlag
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