Hawkings neues Universum
die Quantentheorie wirklich bedeutet. Im Wesentlichen gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist die Grundgleichung der Quantentheorie, die Schrödinger-Gleichung, richtig und muss nur – wie auch Albert Einstein dachte – vervollständigt werden. Oder sie ist streng genommen falsch und muss verändert werden.
„Unterschiedliche Interpretationen machen dieselben Voraussagen für die Ergebnisse von Messungen. Und das ist der Grund, warum man sich über die Interpretationen streiten kann“, sagt James Hartle. „Gibt es dagegen verschiedene Voraussagen, dann handelt es sich um verschiedene Theorien, und die Diskussion um die Interpretationen ist unnötig: Wir könnten die Theorien experimentell unterscheiden. Eine wäre richtig, die anderen falsch.“
Inzwischen herrscht ein wildes Durcheinander von Interpretationen und alternativen Theorien. Letztere könnten im Rahmen einer künftigen Theorie der Quantengravitation notwendig werden, sind aber spekulativ und haben noch keine Daten-Basis. Es gibt bislang nämlich kein einziges Experiment, das den Voraussagen der Quantentheorie widerspricht. Insofern liegt das Problem, wenigstens im Augenblick, nicht an der Theorie selbst, die sich für alle praktischen Belange bewährt hat. „Maul halten und rechnen!“, lautet deshalb oft die (meistens Richard Feynman zugeschriebene) Devise, mit der man sich erst gar nicht durch philosophische Fragestellungen verzetteln und darin verlieren soll – und das gilt nicht nur für aufgeweckte Physikstudenten. Aber die Schwierigkeiten mit einer überzeugenden Deutung der Quantentheorie – und somit deren Verständnis überhaupt – lassen sich durch eine rein pragmatische Haltung nicht lösen. Sie werden allenfalls unter den Teppich gekehrt. Doch sie treten spätestens dann wieder zum Vorschein, wenn man die Quantentheorie auf das ganze Universum anwenden will, wie beispielsweise Hawking und Hartle es tun. Denn bei dieser wahrhaft „universalen“ Anwendung versagt der Kopenhagener Ansatz, den Beobachter und das Quantensystem zu trennen. Der Grund dafür ist trivial: Der Beobachter, der Messungen macht, ist in der Quantenkosmologie unweigerlich selbst ein Teil des Systems, schließlich befindet er sich nicht außerhalb des Universums.
Viele Geschichten
„Jeder, der älter als zwölf ist, weiß, dass es keine Gewissheit in dieser Welt gibt, oder? Und deshalb muss die Physik mit Wahrscheinlichkeiten umgehen“, sagt James Hartle. „Wahrscheinlichkeiten sind von fundamentaler Bedeutung, die Ungewissheit ist unvermeidlich, und deshalb würde eine quantenphysikalische ‚Theorie von Allem‘ nicht eine bestimmte zeitliche Geschichte des Universums voraussagen, sondern vielmehr Wahrscheinlichkeiten für verschiedene Möglichkeiten von Ereignissen, die geschehen sein könnten.“ Das hat Hartle zufolge einen simplen Grund: „Es gibt keine Ereignisfolge, die durch die Gesetze der Physik besonders legitimiert wäre. Alle Ereignisse sind möglich, einige wahrscheinlicher als andere. Die Quantenkosmologie muss sich bewähren, indem sie die Dinge benennt, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit von der Theorie vorhergesagt werden.“
Das sind programmatische Aussagen. Aber dahinter steckt nicht bloß ein schön klingendes Programm, sondern eine handfeste Deutung der Quantentheorie: die Viele-Historien-Interpretation, die auch Konsistente-Historien- oder Dekohärente-Historien-Interpretation genannt wird. Es handelt sich um einen minimalistischen Zugang, der für viele Physiker den Vorteil hat, dass er der Kopenhagener Deutung relativ nahe steht und somit ein geringeres Umdenken erfordert als andere Ansätze. Doch die Kopenhagener Deutung „ist viel zu speziell, als dass sie heute als die fundamentale Beschreibung anerkannt werden könnte“, kritisiert Gell-Mann. „Allgemein betrachtet, muss sie nicht nur als Sonderfall, sondern auch als Näherung gelten.“ Stattdessen sollte die Quantentheorie von Historien oder Geschichten handeln, sind Gell-Mann und Hartle überzeugt. Seit 1986 haben sie gemeinsam diese neue Interpretation der Quantentheorie ausgearbeitet. Zum einen, um die Konfusion der Kopenhagener Deutung zu überwinden, die nur als Sonderfall für idealisierte Messungen gilt, bei denen das Quantensystem hinreichend von der Umgebung abgeschirmt ist und der Beobachter außerhalb und unabhängig davon steht. Und zum anderen, um Quantenkosmologie zu betreiben – also eine quantenphysikalische Beschreibung des Universums als
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