Hawkings neues Universum
gleichberechtigt, aber nicht gleich wahrscheinlich. Der wahrscheinlichste Weg ist in der Regel derjenige, den die klassische Physik als den einzigen betrachtet. Und Feynmans Pfadintegral-Methode ist ein Verfahren, die verschiedenen Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, eine Art Aufsummierung der Möglichkeiten. Damit wird über alle möglichen Pfade integriert (im mathematischen Sinn). Im Endeffekt entspricht das Pfadintegral der Schrödinger-Gleichung, also der Psi- oder Wellenfunktion.
Viele Wege führen ans Ziel: Und in der Quantenwelt werden auch alle beschritten – alle zugleich! Die Pfadintegral-Methode erlaubt es, diese Entwicklungen zu berechnen. Der klassische Weg von A nach B ist der kürzeste und wahrscheinlichste, aber alle anderen müssen auch berücksichtigt werden (in der Grafik sind nur ein paar skizziert). Diese Methode wendet Stephen Hawking an, um die vielen Historien des Universums zu erfassen und dessen Anfang zu rekonstruieren.
Das alles ist in der Quantentheorie gut etabliert. In der Quantenkosmologie geht man aber einen gewaltigen Schritt weiter. Hier integriert man nicht über die Wege von Teilchen oder Wellen, sondern über die möglichen Entwicklungszustände oder -verläufe des Universums insgesamt – also seine Historien. „In der Quantenphysik beschreiben wir ein System, in dem wir seine Wellenfunktion angeben. Das ermöglicht uns, die Wahrscheinlichkeit dessen, was wir sehen könnten, zu berechnen“, sagt James Hartle. „Im Fall des Universums könnten wir uns beispielsweise für seine Größe, seine Form und seine dreidimensionale Raumgeometrie interessieren. Mit der Wellenfunktion können wir die Wahrscheinlichkeit verschiedener Antworten berechnen.“ Mit anderen Worten: Die Quantenphysik beschreibt eine Überlagerung aller von den Naturgesetzen und den spezifischen Randbedingungen erlaubten Möglichkeiten, und mit der Pfadintegral-Methode lassen sich deren Wahrscheinlichkeiten abschätzen. Und genau das ist die Strategie von Hawking und Hartle, die die Pfadintegral-Methode schon 1976 zur Beschreibung der Strahlung Schwarzer Löcher eingesetzt hatten.
„Im Fall der Quantengravitation würde Feynmans Idee einer Aufsummierung von Möglichkeiten bedeuten, dass man verschiedene mögliche Geschichten für das Universum aufsummiert, das heißt verschiedene gekrümmte Raumzeiten. Diese würden die Geschichte des Universums und aller in ihm enthaltenen Objekte repräsentieren. Dabei müsste man angeben, welche Klasse möglicher gekrümmter Räume in die Aufsummierung von Möglichkeiten einbezogen werden soll. Von der Wahl dieser Klasse von Räumen hinge ab, in welchem Zustand sich das Universum befindet“, fasst Hawking die Pfadintegral-Methode in der Quantenkosmologie zusammen. Und hier kommt das notorische Problem der Urknall-Singularität ins Spiel: „Wenn die Klasse von gekrümmten Räumen, die den Zustand des Universums definiert, Räume mit Singularitäten einbezöge, würden die Wahrscheinlichkeiten solcher Räume von der Theorie nicht bestimmt, sondern müssten auf irgendeine willkürliche Art zugeordnet werden. Das heißt, die Wissenschaft könnte die Wahrscheinlichkeiten für solche singulären Geschichten der Raumzeit nicht vorhersagen. Ihr wäre es also nicht möglich, vorherzusagen, wie sich das Universum verhält. Doch vielleicht ist der Zustand, in dem sich das Universum befindet, durch eine Summe definiert, die nur nichtsinguläre gekrümmte Räume einschließt. In diesem Fall würden die Naturgesetze das Universum vollständig bestimmen.“
Mit anderen Worten: In der Quantenkosmologie kann die Pfadintegral-Methode nur dann das gesamte Universum beschreiben – mehr noch: alle möglichen Historien des Universums, die sich in einer Superposition befinden –, wenn sich die Urknall-Singularität vermeiden lässt. Andernfalls versagt jegliche Abschätzung der Wahrscheinlichkeit. „Wenn die Gesetze der Physik an den Singularitäten zusammenbrechen, können sie das überall tun. Man besitzt nur dann eine wissenschaftliche Theorie, wenn die Gesetze der Physik überall gelten, auch zu Beginn des Universums“, betont Hawking und verdeutlicht das mit einer Analogie, die so ähnlich schon der britische Schriftsteller George Orwell formuliert hatte. „Dies könnte man als Triumph für die Prinzipien der Demokratie ansehen: Warum sollte der Beginn des Universums von den Gesetzen ausgenommen sein, die an allen anderen Punkten gelten? Wenn alle Punkte gleichberechtigt sind,
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