Hawkings neues Universum
die Singularität.) Hawkings „No-Boundary Proposal“, die Keine-Grenze-Hypothese, besagt aber, dass das Universum keine Grenze, das heißt keinen Rand beziehungsweise keine Singularität hat. Stattdessen wird der harte Rand (oder die dornige Punktspitze) abgerundet, das heißt wie bei einem Federball durch eine Halbkugel ersetzt. Und genau dazu ist die imaginäre Zeit erforderlich. Denn diese Halbkugel, im physikalischen Jargon gesprochen ein sogenanntes Instanton, hat vier Raumdimensionen (siehe Abbildung Seite 315).
Das Instanton besitzt keinen Rand, keine Grenze in Raum und Zeit. Deshalb ist es sinnlos zu fragen, was dahinter kommt. Genauso unsinnig wie die Frage, was südlich des Südpols liegt. „Der Südpol ist ganz ähnlich wie jeder andere Punkt auf der Erdoberfläche“, erläutert Hawking. „Zumindest wurde mir das gesagt. Ich habe zwar schon die Antarktis besucht, nicht aber den Südpol selbst.“ Und so, wie die Naturgesetze am Südpol in Kraft sind, sollte das auch beim Urknall der Fall gewesen sein. „Das würde den alten Einwand beseitigen, dass die Naturgesetze am Anfang des Universums keine Gültigkeit hatten. Stattdessen wäre auch dieser Anfang den Naturgesetzen unterworfen. Die Idee, die Jim Hartle und ich entwickelt haben, beschreibt die spontane Quantenentstehung des Universums ähnlich wie die Bildung von Gasblasen in einem Kochtopf mit Wasser“, versuchte es Hawking in seinem Buch Das Universum in der Nussschale anschaulich zu machen. „Die Keine-Rand-Bedingung schränkt die möglichen Geschichten des Universums exakt auf diejenigen Raumzeiten ein, die keinen Rand in der imaginären Zeit haben. Mit anderen Worten: Die Randbedingung des Universums ist, dass es keinen Rand hat.“
Und James Hartle drückt das so aus: „Wenn man die Zeitrichtungen mit Hilfe imaginärer Zahlen misst, erhält man eine vollkommene Symmetrie zwischen Zeit und Raum, eine mathematisch sehr schöne und natürliche Idee. Diese mathematische Einfachheit der imaginären Zeit liegt dem Keine-Grenzen-Ansatz zugrunde – einer Hypothese mit der einfachsten aller möglichen Anfangsbedingungen des Universums.“
Hawking führt den Gedanken fort: „Auch wenn die Randbedingung des Universums sein sollte, dass es keinen Rand hat, so besitzt es nicht nur eine einzige Geschichte. Auch dann hat es eine Vielzahl von Geschichten, wie sie Feynman beschreibt. Jeder möglichen geschlossenen Fläche entspricht eine Geschichte in der imaginären Zeit, und jede Geschichte in der imaginären Zeit bestimmt eine Geschichte in der reellen Zeit.“ Das Adjektiv „reell“ bezieht sich auf die reellen Zahlen, mit denen sich die reale Zeit ordnen beziehungsweise messen lässt. (Die reellen Zahlen liegen wie Punkte auf dem Zahlenstrahl und umfassen sowohl die rationalen – und somit auch ganzen – Zahlen als auch die irrationalen wie die Kreiszahl Pi, die Eulersche Zahl e oder die Wurzel aus zwei; die imaginären Zahlen stehen senkrecht zu den reellen.) „Vielleicht ist die imaginäre Zeit in Wirklichkeit die reale Zeit und das, was wir reale Zeit nennen, nur ein Produkt unserer Phantasie“, spinnt Hawking den Gedanken weiter. „In der realen Zeit hat das Universum einen Anfang und ein Ende. Aber in der imaginären Zeit gibt es keine Singularitäten oder Grenzen. Vielleicht ist also das, was wir imaginäre Zeit nennen, in Wirklichkeit viel fundamentaler und das, was wir reale Zeit nennen, nur eine Idee, die wir erfinden, um besser beschreiben zu können, wie das Universum unserer Meinung nach beschaffen ist.“
Reelle und imaginäre Zeit: Wird das Universum im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie beschrieben, hat es im Urknall eine Singularität – eine Stelle, wo die Naturgesetze außer Kraft sind – und ebenso im Endknall, falls es dazu käme. Das ist mit dem Schnittpunkt von Längengraden an den Polen vergleichbar (links). Doch in der Natur kann eine Singularität aufgrund ihrer unendlichen Dichte, Energie und Krümmung nicht existieren – sie ist ein mathematisches Artefakt, das den Zusammenbruch der Theorie markiert. Daher suchen Kosmologen nach singularitätsfreien Modellen. Stephen Hawking entwickelte ein solches mithilfe der imaginären Zeit. Sie steht gleichsam senkrecht zur uns vertrauten reellen Zeit. In ihr gibt es – wie bei den Breitengraden – keine Singularität (rechts). Ob die imaginäre Zeit nur ein mathematischer Trick ist, wird kontrovers diskutiert.
Die (real) zeitlosen Instanton-Modelle
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