Hawkings neues Universum
schlicht unnötig – und genau darin besteht Hawkings Argument.
Teil V
Mysteriöse Zeit
Die Welt in ihrer Tiefe verstehen,
heißt den Widerspruch verstehen.
Friedrich Nietzsche (1844–1900),
deutscher Philosoph und Dichter
Die Rätsel der Zeit
Stephen Hawkings Konzept der imaginären Zeit wirft, wenn es sich nicht nur um einen mathematischen Trick ohne physikalische Bedeutung handelt, die bodenlose Frage auf, was Zeit ist – auch und besonders die uns vertraute scheinbar „reale“ Zeit. Mit einem Verständnis der Zeit könnte die Erklärungskraft der kosmologischen Theorien stehen oder fallen. Und das ist beunruhigend, zumal die „Weltformel“ der Wheeler-DeWitt-Gleichung keinen eigenständigen Zeit-Parameter enthält, also in gewisser Weise zeitlos ist. Bedeutet dies, dass die Zeit gar nicht fundamental ist, sondern ein Nebenprodukt von etwas anderem? Aber wovon? Und was ist die Zeit überhaupt?
Diese Frage ist nicht neu. „Was ist also Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht“, hat Aurelius Augustinus, Bischof von Hippo im heutigen Algerien, vor über 1500 Jahren geschrieben. Seither hat die Zeit kaum etwas von ihrem Rätsel verloren – im Gegenteil. Und sogar die Wirklichkeit der Zeit hatte Augustinus bereits hinterfragt: „Die Zeit kommt aus der Zukunft, die nicht existiert, in die Gegenwart, die keine Dauer hat, und geht in die Vergangenheit, die aufgehört hat zu bestehen.“ Ist Zeit also gar nicht real oder etwas ganz anderes, als die Alltagserfahrung glauben macht?
Diese dramatische Frage hat der japanische Dichter Tanikawa Shuntarō poetisch auf den Punkt gebracht:
„Mit drei hatte ich keine Vergangenheit
Mit fünf –
meine Vergangenheit reicht bis gestern
Mit sieben –
meine Vergangenheit reicht bis zum Zopfzeitalter
Mit elf –
meine Vergangenheit reicht bis zum Dinosaurier
Mit vierzehn –
meine Vergangenheit ist wie im Schulbuch
Mit siebzehn –
ängstlich starre ich auf die Unendlichkeit des Vergangenen
Mit achtzehn –
ich weiß nicht, was Zeit ist.“
Schon in der Antike haben viele Philosophen diese Ratlosigkeit verspürt und versucht, dem Wesen der Zeit auf die Schliche zu kommen. Viele Antworten wurden vorgeschlagen auf die Frage „Was ist Zeit?“:
„Ein sich bewegendes Bild der Ewigkeit“ (Platon),
„die Zahl der Bewegungen im Hinblick auf das Davor und Danach“ (Aristoteles),
„das Leben der Seele in Bewegung, wenn sie von einem Zustand des Handelns oder Erlebens zum anderen übergeht“ (Plotin),
„eine Gegenwart der vergangenen Dinge, Gedächtnis der gegenwärtigen Wahrnehmung und der künftigen Erwartung“ (Augustinus).
Aber alle diese Bestimmungen helfen nicht weiter. Denn als Definitionen wären sie zirkulär, weil sie ja temporale Begriffe bereits enthalten. Fest steht nur, dass in den Zeit-Begriffen Bewegung, Veränderung, Kausalität und sogar Bewusstsein auf eine ziemlich undurchsichtige Weise miteinander verschränkt sind. Und nicht einmal über den Status von Zeit und Raum herrscht Einigkeit: Sind Raum und Zeit …
… selbst eigenständige Gegenstände beziehungsweise Dinge?
… Eigenschaften von Gegenständen?
… Relationen zwischen Gegenständen?
… Sachverhalte?
… A-priori-Vorstellungen beziehungsweise (angeborene) Anschauungs- oder Denkformen des menschlichen Geistes und damit Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt, nicht aber etwas Objektives des subjektunabhängigen Reichs der „Dinge an sich“?
Oder Konstrukte unseres Gehirns, unseres Bewusstseins oder der Grammatik unserer Sprache, denen gar keine eigentliche, selbstständige Existenz zukommt?
Diese Fragen münden letztlich auch in eine Kontroverse, die seit langem in der Physik und Philosophie geführt wird und trotz vieler Fortschritte – die Relativitätstheorie eingeschlossen – nicht gelöst ist. Vereinfacht und zugespitzt stehen sich zwei Auffassungen unversöhnlich gegenüber:
Dem Reduktionismus oder Relationismus der Zeit zufolge, wie ihn etwa Aristoteles, Gottfried Wilhelm Leibniz oder Ernst Mach verfochten haben, existiert Zeit nur, weil und wenn es Veränderungen und somit Beziehungen zwischen Dingen gibt. Im Extremfall ist Zeit dann ein abgeleitetes Produkt, ein Epiphänomen oder eine Illusion.
Dem Platonismus oder Absolutismus der Zeit zufolge, favorisiert beispielsweise von Platon oder Isaac Newton, kann Zeit auch ohne Veränderung vergehen. Demnach wäre es
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