Hawks, John Twelve - Dark River
uns gegenseitig helfen. Wenn ich einen Ausweg finde, könnte ich euch beide mitnehmen.«
»Das könntest du?«
»Ich muss nur den Durchgang finden. Der Verwalter hat gesagt, dass die meisten Gerüchte darüber mit dem Raum zu tun haben, in dem die Schulakten lagern.«
Die Wölfe sahen sich kurz an. Beinahe war die Furcht vor dem Verwalter größer, als das Verlangen zu fliehen.
»Vielleicht … vielleicht könnte ich dich reinschmuggeln, damit du dich kurz umsehen kannst«, sagte Dewitt.
»Wenn du die Insel verlässt, will ich auch weg«, sagte Lewis. »Lass es uns jetzt gleich versuchen. Alle sind draußen, um die Stadt nach Kakerlaken zu durchkämmen …«
Sie banden Gabriels Handgelenke los und halfen ihm auf die Beine. Sie packten ihn fest bei den Armen und führten ihn aus der Turnhalle durch einen menschenleeren Korridor bis vor das Aktenlager. Vorsichtig und verängstigt öffneten sie die Tür und zogen ihn hinein.
In dem Zimmer hatte sich seit Gabriels letztem Besuch nichts verändert. Die einzigen Lichtquellen waren die spärlichen Flammen aus den geborstenen Gasrohren. Obwohl Gabriel Schmerzen hatte, fühlte er sich plötzlich hellwach. In diesem Raum befand sich irgendetwas. Ein Fluchtweg. Er schaute über die Schulter und sah Dewitt und Lewis, die ihn beobachteten wie einen Zauberer, der ein spektakuläres Kunststück vollbringen wird.
Langsam schlurfte er an den metallenen Aktenschränken vorbei durch den hintersten Gang. Als er und Michael kleine Jungen gewesen waren, hatten sie sich an Regentagen die Zeit mit einem bestimmten Spiel vertrieben. Ihre Mutter versteckte irgendwo im Haus einen kleinen Gegenstand, den sie dann suchen mussten, und gelegentlich verriet sie ihnen, ob es »warm« war oder »kalt«. Einen Gang runter. Durch den nächsten rauf zurück. Der Arbeitsbereich in der Zimmermitte. Warm , dachte Gabriel. Wärmer. Nein, jetzt gehst du in die falsche Richtung.
Plötzlich wurde die Tür zum Aktenlager aufgerissen. Noch bevor Dewitt und Lewis reagieren konnten, stürmten bewaffnete Männer die Gänge.
»Nehmt ihnen die Waffen ab«, rief eine Stimme. »Lasst sie nicht entkommen.« Die Männer packten die Verräter, und der Verwalter trat mit dem Revolver in der Hand herein.
ACHTUNDDREISSIG
H ollis schaute gedankenverloren aus dem Fenster des Eurostars, der ein Gefälle hinunterraste und dann im Tunnel unter dem Ärmelkanal verschwand. Im Erste-Klasse-Wagon sah es aus wie in einer Flugzeugkabine. Ein französischer Zugbegleiter schob einen Rollwagen durch den Mittelgang und servierte den Leuten ein Frühstück aus Croissants, Orangensaft und Champagner.
Mother Blessing saß neben Hollis. Sie trug einen grauen Anzug und eine Brille. Ihr widerspenstiges Haar hatte sie zu einem ordentlichen Knoten gebändigt. Während sie die codierten E-Mails auf dem Bildschirm ihres Laptops las, wirkte sie wie eine Investmentbankerin auf dem Weg nach Paris, wo es einen Kunden zu treffen galt.
Hollis war beeindruckt von der Effizienz, mit der der irische Harlequin die Reise nach Berlin organisiert hatte. Innerhalb von achtundvierzig Stunden nach der Zusammenkunft in Winston Abosas Trommelgeschäft hatte sie Hollis mit Geschäftskleidung, einem gefälschten Ausweis und einer gut dokumentierten, neuen Identität ausgestattet. Er war nun ein in London ansässiger Geschäftsführer eines Filmverleihs.
Der Zug schoss aus dem Tunnel heraus und durchquerte Frankreich in östlicher Richtung. Mother Blessing schaltete den Computer aus und bestellte beim Zugbegleiter ein Glas Champagner. Ihre herrische Art brachte die Leute dazu, automatisch den Kopf zu senken, wenn sie sie bedienten. »Kann ich Ihnen noch etwas bringen, Madam?«, fragte der Zugbegleiter mit sanfter Stimme. »Mir ist aufgefallen, dass Sie nicht gefrühstückt haben …«
»Sie haben Ihre Aufgabe zufriedenstellend erledigt«, antwortete Mother Blessing. »Wir brauchen nichts mehr von Ihnen.« Der Zugbegleiter zog sich durch den Mittelgang zurück, die mit einer Serviette umwickelte Champagnerflasche in der Hand.
Zum ersten Mal seit ihrer Abfahrt aus London drehte Mother Blessing den Kopf in Hollis’ Richtung und trug der Tatsache Rechnung, dass ein anderes menschliches Wesen neben ihr saß. Noch vor wenigen Wochen hätte er vielleicht gelächelt und sich bemüht, diese schwierige Frau zu umgarnen, aber nun war alles anders. Seine Wut über Vickis Tod war so übermächtig, dass er manchmal das Gefühl hatte, als hätte ein böser Geist
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