Hawks, John Twelve - Dark River
unerkannt bleiben will. Man benimmt sich so altmodisch oder primitiv, dass man nicht aufgespürt werden kann. Oder man entscheidet sich für den entgegengesetzten Weg und benutzt technische Hilfsmittel, die dem allgemeinen Standard eine Generation voraus sind. In beiden Fällen hat das System Schwierigkeiten damit, die Informationen zu verarbeiten.«
Der Bootsmann kehrte in die Kombüse zurück und machte eine großspurige Geste mit dem Arm. »Kapitän Vandergau sendet die besten Wünsche und bittet Sie, mir zu einem sichereren Aufenthaltsort zu folgen.«
Maya, Vicki und Alice betraten die begehbare Vorratskammer des Schiffs. Mit der Hilfe des javanischen Kochs schichtete der Bootsmann die Vorräte so um, dass die drei blinden Passagiere hinter einem Kistenstapel verschwanden. Dann fiel die Metalltür zu, und sie waren allein.
Die Neonröhre an der Decke gab grelles, metallisches Licht ab. Maya trug einen Revolver im Fußhalfter. Sie hatte ihr Harlequinschwert und das japanische Schwert von Gabriel aus dem Köcher gezogen und neben sich auf die Kante einer Kiste gelegt. Im Zwischendeck über ihnen durchquerte jemand mit schnellen Schritten einen Flur, und das harte Klacken der Absätze hallte bis in die Vorratskammer hinunter. Alice Chen kroch näher an Maya heran, bis sie nur wenige Zentimeter neben dem Bein des Harlequins saß.
Was will sie von mir? , fragte sich Maya. Ich bin der letzte Mensch auf der Welt, von dem sie Liebe oder körperliche Zuwendung zu erwarten hat. Sie erinnerte sich, wie Thorn ihr von einer Reise in den Südsudan erzählt hatte. Während ihr Vater den Tag bei Missionaren in einem Flüchtlingscamp verbracht hatte, war ihm ein kleiner Junge, ein Kriegswaise, gefolgt wie ein verirrter Welpe. »Alle Lebewesen haben einen Überlebenstrieb«, hatte ihr Vater erklärt. »Wenn Kinder ihre Familie verlieren, zieht es sie zur stärksten Person hin, zu dem Menschen, der sie beschützen kann …«
Die Tür öffnete sich, und sie hörten die Stimme des Bootsmanns. »Vorratskammer.«
Ein Mann mit Londoner Akzent sagte: »Klar.« Es war nur ein einziges Wort, aber die Aussprache erinnerte Maya an unzählige britische Eigenarten. Alles klar, Jack. Kleine Hinterhofgärten mit Porzellanzwergen. Pommes und Erbsen. Fast im selben Moment fiel die Tür wieder zu –, sie hatten es geschafft. Die Inspektion war vorüber.
Sie warteten noch ein bisschen, dann kam Kapitän Vandergau in die Kammer und riss die Kistenwand ein. »Es war mir ein Vergnügen, die Damen kennengelernt zu haben, aber nun müssen Sie wirklich gehen. Bitte folgen Sie mir. Ihr Boot ist da.«
Während sie sich in der Vorratskammer versteckt gehalten hatten, war draußen dichter Nebel aufgezogen. Das Oberdeck war nass, und an der Reling hingen kleine Wassertropfen. Die Prince William of Orange hatte in den Docks von East London festgemacht, aber Kapitän Vandergau eskortierte sie zur Steuerbordseite des Schiffs. Ein schmaler Lastkahn tanzte dort auf den Wellen. Das Holzboot war gut zehn Meter lang und für flache Gewässer gebaut. In der Mitte befand sich eine Kabine mit Bullaugen, das Hinterdeck war offen. Maya hatte diese Narrowboats in London früher oft gesehen, wenn sie eine Brücke überquerte. Die Leute wohnten oder verbrachten ihre Ferien darauf.
Ein bärtiger Mann mit schwarzem Regenmantel stand auf dem Achterdeck und hielt die Ruderpinne. Mit der Kapuze auf dem Kopf sah er aus wie ein Mönch der Inquisition. Er gestikulierte – kommt herunter –, und Maya entdeckte die Strickleiter, die man an der Frachterseite heruntergelassen hatte.
Maya und Alice brauchten nur ein paar Minuten, um zum Boot hinunterzuklettern. Vicki war viel vorsichtiger, sie klammerte sich an den Holzsprossen der Leiter fest und schaute immer wieder nach unten zum Boot, das im Seegang auf und ab schaukelte. Endlich berührten ihre Füße das Deck, und sie ließ die Leiter los. Der Bärtige mit der Kapuze, den Maya im Stillen Mr. Regenmantel nannte, startete den Motor.
»Wohin fahren wir?«, fragte Maya.
»Den Kanal rauf bis Camden Town.« Der Bärtige sprach schweres Cockney.
»Sollen wir in die Kabine gehen?«
»Nur, wenn Ihnen kalt ist. Um die Kameras brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Wo wir hinfahren, gibt es keine Kameras.«
Vicki verzog sich in die kleine Kabine, wo ein Holzkohlefeuer in einem gusseisernen Ofen brannte. Alice lief hin und her und inspizierte die Kombüse, das Schiebedach und die Wandvertäfelungen aus
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