Hawks, John Twelve - Dark River
in nördlicher Richtung durch London. Linden legte seine großen Hände auf die Knie und musterte die anderen Passagiere.
»Ich nehme an, Sie sind Mademoiselle Fraser.«
»Ja.« Vicki wirkte eingeschüchtert.
Linden warf Alice Chen einen flüchtigen Blick zu, so als wäre sie eine Plastiktüte voller Müll, die sie vom Boot mitgenommen hatten. »Und das ist das Kind aus New Harmony?«
»Wohin fahren wir?«, fragte Maya.
»Wie dein Vater zu sagen pflegte: ›Immer schön der Reihe nach.‹ Heutzutage gibt es nicht mehr viele Waisenhäuser, aber einer unserer Freunde bei den Sikhs hat eine Pflegemutter in Clapton gefunden, die Kinder aufnimmt.«
»Wird Alice eine neue Identität erhalten?«, fragte Maya.
»Ich habe eine Geburtsurkunde und einen Pass besorgt. Wir haben sie in Jessica Moi umbenannt. Die Eltern sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.«
Langsam lenkte Winston den Wagen durch den Berufsverkehr, und vierzig Minuten später hielt er am Randstein an. »Wir sind da, Sir«, sagte er sanft.
Linden öffnete die Seitentür, und alle stiegen aus. Sie befanden sich in Clapton im Londoner Stadtbezirk Hackney. Die Wohnstraße wurde von zweigeschossigen Terrassenhäusern aus Backstein gesäumt, die vermutlich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut worden waren. Jahrelang hatte das Viertel es geschafft, der Außenwelt eine biedere Fassade zu zeigen, aber inzwischen war es müde geworden, den Schein zu wahren. Schmutziges Regenwasser sammelte sich in den vielen Schlaglöchern auf der Straße und auf dem Gehweg. In den kleinen Vorgärten wucherte das Unkraut, und die Mülltonnen aus Plastik standen dicht gedrängt. Jemand hatte eine Suchanzeige für einen vermissten Hund an einen Baum getackert, aber der Regen hatte die Buchstaben in schwarze Schlangenlinien verwandelt.
Linden ließ den Blick die Straße auf und ab schweifen. Keine Gefahr in Sicht. Er nickte Vicki zu. »Nimm das Mädchen an die Hand.«
»Sie heißt Alice.« Vicki setzte ein störrisches Gesicht auf. »Sie sollten sie mit Namen ansprechen, Mr. … Mr. Linden.«
»Mademoiselle, ihr Name ist nicht von Bedeutung. In fünf Minuten bekommt sie einen neuen.«
Vicki nahm Alices Hand. In den Augen des Mädchens standen Angst und Zweifel. Was passiert hier?
Maya drehte sich von ihr weg. Die kleine Gruppe lief bis zum Haus Nummer siebzehn, und Linden klopfte an die Tür.
Der Regen war in die Außenwand des Hauses eingesickert und hatte den Türrahmen verzogen. Die Tür klemmte, und sie konnten eine Frau dahinter fluchen hören, während der Türknauf sich drehte. Schließlich sprang die Tür auf, und Maya stand vor einer etwa sechzig Jahre alten Frau. Sie hatte stämmige Beine, breite Schultern und blond gefärbte Haare mit grauen Ansätzen. Nicht dumm, dachte Maya. Ein falsches Lächeln auf einem gewieften Gesicht.
»Willkommen, meine Lieben. Ich bin Janice Stillwell.« Sie sprach Linden an. »Und Sie müssen Mr. Carr sein. Wir haben Sie bereits erwartet. Unser Freund Mr. Singh hat erzählt, dass Sie auf der Suche nach Pflegeeltern sind.«
»Das stimmt.« Linden starrte sie wie ein Polizist an, der gerade eine neue Verdächtige entdeckt hat. »Dürfen wir reinkommen?«
»Natürlich. Wie unhöflich von mir! Das war ein schrecklich ungemütlicher Tag heute, nicht wahr? Zeit für einen Tee.«
Im Haus roch es nach Zigarettenqualm und Urin. Ein magerer kleiner Junge mit roten Haaren, der mit nichts als einem viel zu großen T-Shirt bekleidet war, hockte auf halber Höhe der Treppe. Während sie Mrs. Stillwell ins Wohnzimmer folgten, dessen Fenster auf die Straße zeigten, zog sich der Kleine ins Obergeschoss zurück. In einer Ecke stand ein großer Fernseher, in dem gerade ein Zeichentrickfilm mit Robotern lief. Der Ton war abgedreht, aber ein pakistanischer Junge und ein kleines schwarzes Mädchen saßen auf dem Sofa und starrten auf die grellbunten Bilder.
»Einige unserer Kinder«, erklärte Mrs. Stillwell. »Im Moment kümmern wir uns um sechs. Ihres wäre Glückszahl Nummer sieben. Gloria wurde uns vom Jugendamt geschickt. Ahmed ist aufgrund einer privaten Vereinbarung hier.« Mit gereiztem Gesicht klatschte sie in die Hände. »Genug, ihr zwei. Könnt ihr nicht sehen, dass wir Besuch haben?«
Die beiden Kinder schauten sich an und verließen das Zimmer. Mrs. Stillwell drängte Vicki und Alice aufs Sofa zu, aber Maya und Linden blieben stehen. »Möchte jemand einen Tee?«, fragte Mrs. Stillwell. »Einen Tee?« Ihr Instinkt
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