Head over Heels - Gaby Band 1 (German Edition)
bevor sie wieder im Wohnzimmer verschwindet, aus dem lautstarkes Gelächter ertönt.
Pierre schleudert seine Kappe mürrisch von sich und stapft auf mich zu, auf mich, das kleine, elende Häufchen, welches sich in der hintersten Ecke des Raumes versteckt hat. Meine Beine zittern, während ich mich krampfhaft an die vergessenen Textpassagen zu erinnern versuche. Heute ist nicht mein Tag. Es wäre einfach, das Dröhnen und Pochen in meinem Schädel auf den Alkohol zu schieben. Noch einfacher wäre es, das Kribbeln und die Müdigkeit auf die vier Stunden Schlaf zu schieben. Doch da mich selten etwas aus der Ruhe bringt, ich mich beherrschen kann, wenn es darauf ankommt, und mein gesamtes bisheriges Leben aus Disziplin und Ehrgeiz bestanden hat, traue ich mich nicht diesen – zugegebenermaßen – äußerst verlockenden Strohhalm zu ergreifen. Mich an ihm festzuhalten und Pierre, dessen Gesicht wütend wirkt, vorzuheulen, wie schlecht es mir geht.
Ich, vorbildlich , wie ich bin, entscheide mich für die unangenehme, aber zutreffende Variante – ich erzähle ihm die Wahrheit.
Die Moralpredigt und den Wutausbruch, die zweifelsfrei folgen werden, begrabe ich bei meinem Kater im Garten, der zu unseren Füßen liegt.
„Manchmal frage ich mich wirklich, warum ich noch eine Sekunde länger mit dir zusammenarbeite.“
Autsch!
Noch vor einem Jahr hätte ich heulend das Gebäude verlassen. Heute finde ich es nicht mehr allzu schlimm. Sicher schmerzt es und selbstverständlich möchte ich mich verkrümeln, doch ich habe seit dem vergangenen Jahr Pierre und all seine künstlerischen Facetten zu verstehen gelernt. Er ist eine Egozentriker, ein Chaot, ein Meister seines Faches und das weiß er. Gott im Himmel, wie er das weiß! Nicht umsonst zählt er zur A-Liga der Bühnenschauspieler. Mittlerweile tritt er nur noch selten im National Theatre auf. Viel lieber gibt er sein Wissen an jüngere Kollegen weiter. Und um in den Genuss seines Unterrichts zu kommen, habe ich meinen Namen spielen lassen.
Es kostet mich ein Vermögen, ich habe bis heute keine Ahnung, ob ich die Summe gewinnbringend angelegt habe. Ginge es nach Pierres derzeitigem Gesichtsausdruck, hätte ich das Geld auch gleich verbrennen können.
„Ich war …“, beg inne ich mutig, breche dann aber abrupt ab.
„Was , Gaby? Wo warst du? Jedenfalls nicht zu Hause, wo du diesen verdammten Text lernen solltest. Schauspielerei bedeutet Opfer, Liebe, Leidenschaft und – zur Hölle noch einmal – Disziplin.“ Er schreit. Nicht nur das, er brüllt.
Ich umklammere das Fensterbrett und stelle mich seelisch auf eine ganze Liste von Punkten ein, die ich an mir zu verbessern habe.
Wenn er doch nicht immer recht hätte, murre ich und beiße die Zähne zusammen. Trotzig wie ein kleines Mädchen, das den roten Lutscher haben möchte.
Die Mütze hat seine Haare platt gedrückt, weshalb er sich mit den Fingerspitzen hindurchfährt und seine Frisur, wenn man sie als solche bezeichnen kann, noch mehr verunstaltet. Ich würde ihn auf Ende fünfzig, Anfang sechzig schätzen. Sein Kopf ist an den Stellen, an denen er noch von Haaren bedeckt ist, schneeweiß. Sein Gesicht ist f ahl, was vom Rauchen kommt, das er selbst während des Unterrichts nicht lassen kann. Hier wären wir wieder beim Egozentriker. In seiner Jugend hat Pierre ein ausschweifendes Leben geführt, wie er mir in einem vertrauten Moment gestanden hat. Er trank gerne, schlief wenig und ließ keine Party aus. Doch trotz all dieser Sünden war er immer fleißig und zielstrebig und hat seine Träume wahr gemacht.
Ob ich da s jemals schaffen werden, wage ich kaum noch zu hoffen.
„Ich erwarte nichts Unmenschliches von dir, aber es ist außerordentlich wichtig, dass du dich an die ständige Einsatzbereitschaft gewöhnst. Du musst etwas bringen. Ich will nicht nur Talent sehen, sondern auch Leistung.“
„Es tut mir leid. Natürlich ist mir klar , dass es keine Entschuldigung für mein Verhalten gibt. Aber im Moment entgleitet mir mein Leben“, räume ich ein, als täte es etwas zur Sache. Pierre ist in dieser Hinsicht überaus streng. Selbst wenn du ein Bein verloren hast, akzeptiert er das nicht als Entschuldigung.
Pierre nickt zwar, sieht jedoch nicht überzeugt aus. „Am besten ist, wir machen für heute Schluss. So kann und möchte ich nicht arbeiten.“
Okay, das hatten wir noch nie. Hahaha.
„Denke bloß nicht, dass ich auf dein Geld angewiesen bin. Ich habe eine lange Liste vo n Leuten, die
Weitere Kostenlose Bücher