Heavy Cross
vorantreibt, eins, zwei, drei, vier . Die Phobie stört meinen Schlaf, beeinträchtigt so gut wie alles, das sich nachts ereignet. Mom wieder im Haus zu haben war ein Trost. Aber nur, weil sie nicht mehr jeden Abend nach Little Rock raste, bedeutete das noch lange nicht, dass eine neue Ãra der Ruhe und Ordnung angebrochen war.
Mit Moms ständigen Diäten wurde es schlimmer. Meine Mutter litt schon immer unter einer gestörten Wahrnehmung ihres eigenen Körpers. Jetzt, da Gary der Vergangenheit angehörte und noch kein neuer Kerl am Horizont aufgetaucht war, aà sie immer weniger. Während sie hungerte, wurde ihr Körper anfallsartig von manischen Energieschüben durchzuckt â ein seltsamer Trick der Evolution, der einem beim Ãberleben hilft, einem genug Schwung verleiht, um ein Reh zu erschlagen. Mom machte sich diesen Effekt bei der Arbeit zunutze, drehte ihre Runden als Krankenschwester in einem unheimlichen Tempo und mit beeindruckender Zielstrebigkeit. Ihr Körper wurde dabei aber immer knochiger, kantiger und unvertrauter. Auch wurde sie immer gesprächiger, redete aber Unsinn. Ihr Körper griff auf die eigenen Reserven zurück, holte sich Protein aus den Muskeln. Die Leute sagten ihr nicht mehr, dass sie toll aussehe, stattdessen fragten sie, ob alles in Ordnung sei. Einige klangen ernsthaft besorgt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie zusammenbrechen würde, denn weitere Tricks hatte die Evolution nicht im Ãrmel. Und so geschah es auch: Eines Tages klappte sie zusammen und kam ins Krankenhaus. Meine Mutter hatte immer einen normalen, gesunden, weiblichen Körper gehabt. Im Krankenhaus schrumpfte er zu etwas Bedauernswertem zusammen.
Niemand, einschlieÃlich ihrer Ãrzte, erkannte je, dass sich meine Mutter krankhungerte. Auch ihr selbst war es nicht bewusst. Tat sie es wegen der Männer, weil einem in dieser Welt ständig eingetrichtert wird, dass dünn hübsch und dick hässlich ist und dass man, wenn man einen Mann abbekommen möchte â und das wollte Mom unbedingt â, gefälligst dünn zu sein hat? Durchströmte sie ein Gefühl von Ãberlegenheit, weil sie die Entbehrungen zu nehmen wusste? War sie süchtig geworden nach den geheimen Ritualen des Hungerns? War sie stolz darauf, dass sie wenigstens eine ungehörige Sache in ihrem Leben beherrschte?
Oder vielleicht war es meine Mutter auch nur gewohnt, an sich selbst immer zuletzt zu denken. Man kann sich daran gewöhnen, nichts zu sich zu nehmen. Mein kleiner Bruder hob ihr immer die Brotrinden auf, weil er dachte, dass sie die am liebsten mochte, aber tatsächlich war es so, dass meine Mutter darauf bestand, alles, was sie hatte, uns zu geben und ausschlieÃlich von dem zu leben, was übrig blieb. Sogar Hunger, quälender Hunger, kann einem so normal vorkommen, dass man ihn gar nicht spürt. Ich werde nie verstehen, warum Mom ihren Körper so schlecht mit Nahrung versorgte, dass er seinen Dienst versagte, denn sie spricht nicht gern darüber. Ich weià nur, dass sie kurz nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus wieder wilde Partys feierte.
Das ging ein paar Monate so, bevor sie wieder ruhiger wurde. Sie hatte eine Menge leidenschaftlicher Liebesaffären. Männer kamen und gingen, was meiner Mutter guttat, aber nicht ihren kleinen Töchtern, die mitten in ihrer kindlichen Entwicklung steckten.
Die Vormittage brachten weiteres Unbehagen, wenn uns Mom, die in so jungen Jahren schon verlernt hatte, was sich gehört, in allen Einzelheiten von ihren One-Night-Stands erzählte, als wären wir ihre besten Freundinnen. Akasha und ich saÃen eines Morgens am Frühstückstisch, als einer dieser One-Night-Stands Mom zu Hause absetzte. Wir waren keine Töchter mehr, sondern Vertraute. Ich hatte ein namenloses, ätzendes Gefühl, das im Widerstreit zu einem anderen lag: Ich war glücklich, weil Mom glücklich war, glücklich und zu Hause, nicht im Krankenhaus, nicht irgendwo weit weg in der Dunkelheit, sondern hier im Licht bei uns. Ich hatte nie viel Aufmerksamkeit von Mom bekommen, deshalb hatten diese Vormittage etwas seltsam Schönes, als wären wir alle drei Highschool-Mädchen, die zusammen tratschten, nachdem sie sich nachts im Wald mit ein paar Jungs getroffen hatten.
Da Mom versuchte, etwas von ihrer verlorenen Jugend nachzuholen, und da meine Schwester und ich durch die Umstände vorzeitig gealtert waren,
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