Heavy Cross
leben konnte oder wollte. Es kam mir vor, als wäre sie gleich nebenan und würde noch in ihrem Bett liegen. Als müsste man sie nur wecken und sie bitten, von früher zu erzählen, als sie zu den verbotenen Klängen der Jukebox drauÃen im Wald getanzt hatte. Sie war gemein gewesen, irre und gemein. Aber ich war mir absolut sicher, dass die Welt sie so gemacht hatte und dass ich genauso geworden wäre, wenn ich Tante Jannies Leben hätte führen müssen. So viel Wut und keine Möglichkeit, dagegen anzugehen.
Auch nach ihrem Tod stank das Haus immer noch nach ihren Zigaretten, als wäre der Rauch jetzt endgültig aus ihren Lungen geströmt. Judsonia hatte Tante Jannie geprägt und ihren Lebensweg vorgezeichnet. Der Ort hatte dieses wilde Mädchen in Schach gehalten, sie verbogen und zurechtgestutzt wie ein Bonsaibäumchen. Ich hoffte, dass sie nun Frieden gefunden hatte, sofern sie sich überhaupt Frieden wünschte. Vielleicht war der Himmel für Tante Jannie ein Ort, an dem Frauen Krawall schlagen dürfen, kein Blatt vor den Mund nehmen müssen, und wo die Leute dann sogar auf sie hören. Als ich überlegte, wie es in ihrem Himmel wohl aussehen würde, hoffte ich vor allem, dass sie sich jetzt an einem Ort befand, wo sie frei sein durfte.
NEUN
9
BEI TANTE JANNIE HERRSCHTE FÃR DIE KINDER, die bei ihr aufwuchsen, ein raues Klima. Obwohl mein kleiner Cousin regelmäÃig der geballten Wut meiner Tante ausgesetzt war, erging es seiner älteren Schwester nicht viel besser. Er bekam negative Aufmerksamkeit, auf sie dagegen wurde gar nicht weiter geachtet. Kein Wunder, dass niemand mitgekriegt hatte, was sie mir eines Tages anvertraute.
Wir standen uns sehr nahe. An der Situation ihres Bruders und der ihrer kleinen Schwester, die gerade einmal sechs Monate alt war, als sie zu Tante Jannie kam, konnte ich nicht viel ändern. Ich glaube, wenn man ein Mädchen ist, gibt es definitiv keine positiven Seiten daran, die Ãlteste der Geschwister zu sein. Wir beide waren altersmäÃig nicht weit voneinander entfernt und kamen gut miteinander aus, andererseits aber war der Abstand groà genug, dass ich das Gefühl hatte, sie beschützen zu müssen. Ich schätze, so ungefähr muss sich Akasha mir gegenüber immer gefühlt haben.
Eines Abends, als auÃer uns fast niemand im Haus war, kam sie zu mir und wollte mit mir über Dean sprechen. Als sie sagte, Dean würde Sachen mit ihr machen, konnte man es ihrer Stimme anhören, wie sehr sie sich dafür schämte und wie peinlich es ihr war, bestimmte Wörter zu benutzen. Ãberrascht war ich nicht, Dean hatte mich auch schon mal aufgefordert, ihm einen zu blasen. Ich hatte einfach erwidert: »Spinnst du?« Und das warâs. Ich verstand das, was Dean tat, als sexuellen Akt, aber nicht als sexuellen Missbrauch. Kinderschänder waren Typen, die in Vans durch die Gegend fuhren und hübsche kleine Mädchen mit SüÃigkeiten in den Laderaum lockten; oder es waren maskierte Männer, die einem in finsteren Gassen auflauerten. Wir waren alle noch Kinder, ich, Dean, mein Cousin und meine Cousinen. Das zwischen uns konnte doch kein Missbrauch sein, oder? Das war normal. Zu dieser Zeit glaubte ich, dass jeder von uns als Kind mit irgendeiner Form des Missbrauchs durch Erwachsene klarzukommen hatte.
Als ich noch kleiner war, war ich lange Zeit angefressen wegen des guten Verhältnisses, das mein Bruder zu unserem Onkel Lee Roy hatte. Lee Roy war das beste Beispiel für die bekanntermaÃen inzestuösen Zustände im Süden: Er war mit Tante Nancy verheiratet, der Schwester meines Dad, Homer, der mich als seine Tochter annahm. Onkel Lee Roy war auÃerdem der Bruder der GroÃmutter meines leiblichen Vaters. Egal, bei welchem Dad ich also landete, Onkel Lee Roy gehörte so oder so zur Familie. Ich hasste schon den Namen, Lee Roy. Und ich hasste den Mann, was mir gar nicht so leichtfiel, weil ich nämlich genauso aussehe wie er. Er war klein und untersetzt. Er sah irgendwie ganz gut aus, hatte die Haare zur Schmalzlocke gekämmt. Bis zu seinem Tod trug er eine schwarz umrandete Brille mit dicken Gläsern. Er arbeitete bei Wal-Mart, und so habe ich ihn im Gedächtnis behalten, in seinem Wal-Mart-Kittel. Ich erinnere mich an die verschiedenen Klamotten, die ich anhatte, wenn er mich heimlich bedrängte. Ich erinnere mich, dass ich mein Bewusstsein
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