Hebamme von Sylt
dennoch Richtiges getan zu haben. Doch nur so lange, bis Elisa sich von ihr löste und sie in den Augen ihrer Tochter lesen konnte, dass sie nichts bewirkt hatte. Trauer und Verzweiflung waren noch immer nicht aus Elisas Blick verschwunden.
Dr. Nissen merkte gleich, dass etwas anders war. Er hielt die Augen geschlossen, wusste aber, dass der Morgen bereits angebrochen war, spürte die Sonne, die durchs Fenster fiel, auf seiner Haut und merkte, dass der Insel ein warmer Sommertag bevorstand.
Was anders war, wurde ihm klar, als er vor dem Haus jemanden nach Geesche Jensen rufen hörte und keine Antwort kam. Nun wusste er, dass er Geesches schnelle Schritte vermisste, die Geräusche, die aus der Küche drangen, und das leise Summen, mit dem sie den Tag zu begrüßen pflegte.
»Geesche!« Es war eine Männerstimmte, die rief.
Ein Mann, dessen Frau in den Wehen lag? Er hörte es an der Tür klopfen, dann das raue Quietschen der Klinke.
»Geesche? Bist du da?«
Vorsichtige Schritte bewegten sich durch den Flur und verschwanden in der Küche. Nur kurz, dann kehrten sie zurück. Die Tür öffnete sich erneut … und Dr. Nissen hörte andere Schritte, die ihm mittlerweile vertraut waren. Tohk-tik, tohktik.
»Moin, Hanna«, hörte er die männliche Stimme erneut. »Weißt du, wo Geesche ist?«
»Ist sie nicht in der Küche?«, fragte Hanna zurück.
»Nein, da habe ich nachgesehen.«
»Sie müsste längst mit dem Frühstück begonnen haben.«
Dr. Nissen stand auf, erledigte hastig seine Morgentoilette, dann ging er in die Küche, wo Hanna gerade seine Getreidegrütze anrührte. »Moin, Hanna! Wo ist Frau Jensen?«
Hanna drehte sich nicht zu ihm um, als sie antwortete: »Weiß ich nicht. Vielleicht am Meer. Sie geht immer zum Meer, wenn sie Probleme hat.«
»Sie hat Probleme?« Dr. Nissen zog selbst den Tisch von der Wand, was Geesche sonst immer schon erledigt hatte, wenn er zum Frühstücken erschien, und rückte zwei Stühle an den Tisch, als hoffte er darauf, dass Geesche bald zurückkommen und ihmbei der ersten Mahlzeit des Tages Gesellschaft leisten würde. Er betrachtete Hanna, die sich Mühe gab, die Arbeit nachzuholen, die Geesche längst hätte erledigen müssen. Ihr Körper schwankte von einer Seite der Feuerstelle zur anderen, jeder ihrer Schritte war so mühsam, dass Leonard Nissen wegschauen musste, weil er kein Mitleid mit Hanna Boyken haben wollte.
Sie ließ sich Zeit mit einer Antwort, goss kochendes Wasser auf die Teeblätter, dann erst wandte sie sich um und sagte: »Ich habe gestern gehört, dass Schluss ist mit Marinus Rodenberg. Er hat gesagt, er will nichts mehr mit ihr zu tun haben.«
Dr. Nissen starrte sie ungläubig an. »Stimmt das wirklich?«
»Er hat gesagt, sie soll ihm nie wieder unter die Augen kommen.«
Hanna löste sich von der Feuerstelle, kam zu ihm an den Tisch und stellte sich so dicht vor ihn, als wäre es ihre Absicht, ihn zu bedrängen. Es war Dr. Nissen unangenehm, auf die Stelle ihrer Schürze zu starren, wo sie sich schon häufig die Hände abgewischt hatte, und ihren Körpergeruch wahrzunehmen. Er war nicht unangenehm, aber er wollte auf keinen Fall wissen, wie Hanna Boyken roch.
Er erhob sich, damit er auf sie herabsehen konnte. »Haben die beiden sich gestritten?«
Hanna ging zur Feuerstelle zurück. »Jedenfalls werden sie nicht heiraten.« Sie setzte die Teekanne auf den Tisch und stellte die Kluntjes und frische Milch daneben. »Sie zahlen mir so viel wie meine Mutter in drei Monaten bei Geesche verdient. So war es abgemacht.«
Leonard Nissen lachte verächtlich und setzte sich wieder. »Ich habe gesagt, das bekommst du, wenn du dafür sorgst, dass die beiden nicht heiraten. Hast du dafür gesorgt?«
»Sie haben gesagt, das bekomme ich, wenn die beiden nicht heiraten.«
»Unsinn! Warum sollte ich dich dafür bezahlen, dass die beiden sich streiten und trennen?«
Hanna bedachte ihn mit einem Blick, der in Dr. Nissen viele unangenehme Fragen erzeugte. Ohne um Erlaubnis zu bitten, setzte sie sich zu ihm an den Tisch, was ihn dermaßen ärgerte, dass er es wiederholte: »Es gibt kein Geld, wenn du nichts dafür getan hast.«
Nun wurde es plötzlich still in der Küche. Eine Fliege summte gegen die Fensterscheibe, das Holz in der Feuerstelle knackte, eine weit entfernte Stimme war zu hören und dann der Flügelschlag einer Möwe, die sich vor dem Küchenfenster niederließ, um etwas aufzupicken. Dr. Nissen hatte Mühe, die Stille zu ertragen, aber er war
Weitere Kostenlose Bücher