Hebamme von Sylt
habe es ausLiebe zu Katerina getan. Sie wäre an einem verkrüppelten Kind zerbrochen.«
»Und was ist mit der armen Fischersfrau? Kommt es auf sie nicht an?«
Der Graf hatte sich nun wieder in der Gewalt. Er zog seine Manschetten aus den Ärmeln und strich über den Kragen seiner Jacke, als sei er von Marinus tätlich angegriffen worden und habe es nötig, sein äußeres Erscheinungsbild zu korrigieren. »Natürlich weiß ich, dass es nicht richtig war, was ich getan habe. Es war die pure Verzweiflung, die mich dazu getrieben hat. Da lagen zwei kleine Mädchen vor mir, eins gesund und kräftig, das andere mager und verkrüppelt. Ich hatte die Chance, Katerina ein gesundes Kind in den Arm zu legen. Ich konnte sie endlich glücklich machen! Kannst du das nicht verstehen?«
»Nein!«, brüllte Martinus.
»Die Hebamme brauchte Geld! Ihr Verlobter verfiel von Tag zu Tag mehr der Schwermut. Sie wollte ihn retten, indem sie ihm ein eigenes Boot kaufte.«
»Sie hat ihn nicht gerettet.«
»Das konnte niemand voraussehen.«
Marinus drehte sich um, als könnte er den Anblick seines Bruders nicht mehr ertragen. »Du musst das Unrecht wiedergutmachen«, sagte er, ohne Arndt anzusehen.
»Ich kann es nicht«, antwortete Arndt gequält. »Wie soll ich Freda Boyken entschädigen, ohne ihr zu erklären, warum ich es tue?«
Nun fuhr Marinus zu ihm herum. »Du wirst es ihr erklären«, schrie er seinem Bruder ins Gesicht. »Wenn du es nicht tust, werde ich diese Aufgabe übernehmen.«
»Nein, Marinus!«
»Diesen Schritt will ich dir entgegengehen. Du darfst die Wahrheit selbst aussprechen. Tust du es nicht …«
Arndt unterbrach ihn aufgeregt. »… dann zwingst du mich?«
Marinus nickte. »Du wirst Hanna erklären, dass du ihr Vater bist. Du wirst Elisa erklären, dass sie eigentlich in die armselige Kate einer bitterarmen Witwe gehört! Und du wirst Katerina erklären, dass die Gesellschafterin ihrer hübschen, gesunden Tochter das Kind ist, das sie vor sechzehn Jahren zur Welt gebracht hat.«
Graf Arndt war blass geworden. »Das kannst du nicht von mir verlangen.«
»Wenn du es nicht tust, werde ich es erledigen.« Marinus gab einen Laut von sich, der wohl ein verächtliches Lachen sein sollte. »Wie hat unser Vater oft gesagt? Wenn man einen Fehler begangen hat, muss man dafür geradestehen.«
»Er hat auch gesagt, wir sollen nichts tun, was andere Menschen unglücklich macht.«
»Du hast es getan.«
»Aber das Unglück würde um ein Vielfaches größer, wenn ich versuchte, meine Entscheidung von damals rückgängig zu machen.« Graf Arndt machte einen Schritt vor, um seinen Bruder zu berühren, nach seiner Hand zu greifen oder ihm zumindest so nah zu sein, wie man keinem Fremden nahekam. »Stell dir Katerinas Unglück vor! Elisas Unglück! Freda Boykens Unglück!«
»Ich stelle mir Hannas Glück vor, wenn sie hört, dass sie die Tochter eines Grafen ist. Die Tochter eines reichen Mannes, der ihr Schuhe kauft, mit denen sie besser laufen kann. Der sie mit schönen Kleidern für ihr schweres Schicksal entschädigt.«
»Glaubst du wirklich, dass sie das nach sechzehn Jahren noch glücklich machen kann? Sie wird nur daran denken, dass sie so lange darauf warten musste.«
Graf Arndt hatte nicht gemerkt, dass ihm die Tränen gekommen waren. Erst als sie über seine Wangen liefen, schluchzte er auf und wischte sie mit einer so hilflosen Geste weg, dass sein Bruder ihn betroffen ansah. Nicht mehr hasserfüllt, nicht mehr vorwurfsvoll, sondern wieder so wie ein Bruder.
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, aber Arndt konnte daran glauben, dass es sie nicht mehr trennte. Verbinden konnte es sie nicht, aber es war doch etwas, was hinüberreichte von einem zum anderen. Erst als es zur Last zu werden drohte, sagte er: »Ich habe es mir leichter vorgestellt, Hanna zu begegnen. Genau genommen habe ich in der Nacht, in der die beiden Mädchen geboren wurden, gar nicht daran gedacht, dass ich würde zusehen müssen, wie Hanna aufwächst. Es war schwer. Und es wird von Jahr zu Jahr schwerer.«
»Erwarte kein Mitleid von mir.« Schon war es wieder da, die Kälte, das Schneidende, die Zurückweisung.
»Das erwarte ich nicht. Aber eins erwarte ich: dass du mir glaubst, wenn ich dir sagen, dass ich das alles für Katerina getan habe. Nicht für mich.«
Marinus wollte etwas entgegnen, und Arndt sah seiner Antwort besorgt entgegen … da veränderte sich plötzlich der Gesichtsausdruck seines Bruders. Sein Blick, der über
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