Hebamme von Sylt
überlegt, wo Marinus nächtigen könnte, und war schließlich zu der Ansicht gekommen, dass das Haus des Kurdirektors groß genug war, um einem seiner Ingenieure Obdach zu gewähren. Eine Übernachtung in einem Hotel konnte Marinus sich nicht leisten, und dass er sich um eins der wenigen Privatzimmer bemühte hatte, die es auf Sylt mittlerweile gab, konnte Arndt sich nicht vorstellen. Marinus Rodenberg war mittlerweile als Bruder des Grafen auf der Insel bekannt und würde sich Fragen gefallen lassen müssen, die ihm nicht behagen konnten.
Aber natürlich würde auch Dr. Pollacsek Fragen stellen. Und das war der zweite Grund, warum Graf Arndt den Kurdirektoraufsuchen wollte. Er musste herausfinden, was sein Bruder verraten hatte. Und dann würde er Dr. Pollacsek zu der Einsicht bringen müssen, dass Marinus aufgrund eines bedauerlichen Missverständnisses zu der Ansicht gekommen war, Graf Arndt habe vor fast siebzehn Jahren bei einem Besuch auf Sylt ein Kind mit einer anderen Frau gezeugt. Arndt wusste, dass er sehr überzeugend sein konnte, und war voller Hoffnung, dass man ihm glauben würde. Schließlich war sein Ruf untadelig, auf ganz Sylt wusste jeder, dass er ein guter Ehemann und Vater war, während Marinus …
Graf Arndt stöhnte auf und schob den Rest des Gedankens beiseite. Dass Marinus nicht nur der Sohn eines Grafen, sondern auch der Bankert eines Dienstmädchens war, daran durfte er nicht einmal denken. Es gab viel, was er richtigstellen und wiedergutmachen musste! Er hatte nicht nur seinen Bruder von der Idee abzubringen, dass Hanna seine Tochter war, er musste auch erreichen, dass er ihm verzieh. Dann erst würde er wieder zur Ruhe kommen.
Er ging die Süderstraße hinab. Gelegentlich begegneten ihm Frauen, die zu ihren Weiden oder Feldern unterwegs waren, einmal wurde er von einem Fuhrwerk überholt, das eine Menge Staub aufwirbelte und ihm eine Weile die Sicht nahm. Als der Schleier sich senkte und die Straße wieder klar vor ihm lag, sah er die Gestalt am Ende des Weges. Und er wusste sofort, dass es sein Bruder war, der auf ihn zukam. Seine kräftige Gestalt, die großen Schritte, die Arme, die er beim Gehen vom Körper abspreizte, die leicht gebeugte Haltung. Marinus’ Mutter hatte nicht darauf geachtet, dass ihr Sohn so aufrecht ging, wie es sich für den Abkömmling eines Grafen gehörte, Marinus kam so breitbeinig daher wie die Landarbeiter auf dem Gut der von Zederlitz.
Arndt sah gleich, dass Marinus im Freien genächtigt hatte. Obwohl er sich augenscheinlich den Sand abgeklopft hatte, haftete er dennoch sowohl an seiner Kleidung als auch in seinenHaaren. Er blickte zu Boden, während er auf Arndt zuging, obwohl er seinen Bruder längst bemerkt und erkannt hatte. Aber er sah erst auf, als er nur noch wenige Meter von Arndt entfernt war, und schien zu überlegen, ob er stehen bleiben oder wie ein Fremder an ihm vorbeigehen sollte.
Arndt verzichtete auf die Frage, woher sein Bruder kam, warum er nicht in seinem Bett geschlafen hatte. Er wünschte ihm nur kurz einen guten Morgen und sah darüber hinweg, dass Marinus ihm eine Entgegnung schuldig blieb. »Es tut mir leid, Marinus, was ich zu dir gesagt habe. Ich kann dich nur noch einmal bitten, mir zu verzeihen. Natürlich bist du nicht der Bankert eines Dienstmädchens, du bist mein Bruder! Ich entschuldige mich in aller Form bei dir und bitte dich, mir die Hand zur Versöhnung zu reichen.«
Graf Arndt streckte sie Marinus entgegen, aber der legte beide Hände demonstrativ auf den Rücken. »So einfach ist das nicht«, sagte Marinus, und die Kälte in seinen Augen ließ Graf Arndt trotz des warmen Sommermorgens frieren. »Ich kenne nun die ganze Wahrheit.«
Graf Arndt starrte seinen Bruder an, die Gedanken jagten durch seinen Kopf. Was meinte Marinus?
Bevor er die Frage stellen konnte, ergänzte sein Bruder: »Ich habe mit Geesche gesprochen. Sie war der Meinung, dass ich bereits die ganze Wahrheit kenne, und hat sie deshalb arglos ausgesprochen.« Nun wurde sein Stimme dunkel vor Enttäuschung, Wut und Verachtung. »Aber mein Bruder hat es ja vorgezogen, mich zu belügen.«
»Ich habe nicht gelogen, ich habe geschwiegen«, verteidigte Graf Arndt sich.
Nun begann Marinus zu schreien. »Du hast dir ein gesundes Kind gekauft! Du hast deine leibliche Tochter der Armut überlassen, weil sie nicht so war, wie du sie haben wolltest.«
Auch Graf Arndt, der noch nie in seinem Leben einen Menschen angeschrien hatte, hob seine Stimme. »Ich
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