Hebamme von Sylt
lebhaft wie in seinen ersten Stunden. Die Kinder lärmten, helle Frauenstimmen waren zu hören, hin und wieder das Lachen eines Mannes. Die Menschen schienen an diesem Abend nicht so erschöpft zu sein wie sonst, nicht so mutlos, nicht so gleichgültig.
Heye Buuß ging hoch aufgerichtet seiner Aufgabe entgegen, im Bewusstsein seiner Würde und Macht, Dr. Nissen war immer einen Schritt hinter ihm, als hätte er Mühe, ihm zu folgen. Der Inselvogt genoss die fragenden Blicke, die ihnen folgten, das Getuschel, das in ihrem Rücken entstand, weil anscheinend alle gleich erkannten, dass Heye Buuß in seiner Eigenschaft als Inselvogt unterwegs war. Leonard Nissen hätte sich lieber langsam fortbewegt, damit möglichst viel Zeitwar für die vielen Gedanken, die ihm im Kopf herumgingen. Hanna hatte gesagt, wenn er ihr das Geld schuldig bliebe, würde er Geesche nicht bekommen! Dann würde aus seiner Heirat mit ihr genauso wenig werden wie aus Geesches Heirat mit Marinus Rodenberg! Hatte er tatsächlich ihre Macht unterschätzt?
Während der Inselvogt darüber lamentierte, dass heutzutage auf nichts mehr Verlass sei, wenn sich sogar eine bis dahin unbescholtene Frau wie die Hebamme zu einem schweren Diebstahl verführen ließ, fragte Dr. Nissen sich immer wieder, ob er sein Glück verschenkt hatte, als er Hanna Boyken ihren Lohn verweigerte. Er wusste nicht, wie viel Freda Boyken in vier Monaten bei Geesche Jensen verdiente, aber da er ihre Armut kannte, konnte er sich denken, dass es ein karger Lohn war, der gerade zum Überleben reichte. Für ein paar Mark also hatte er seine Zukunft verspielt? Dr. Nissen spürte Zorn in sich aufwallen. Woher hatte das verkrüppelte Mädchen diese Macht?
Um Zeit zu gewinnen, blieb er stehen und zwang damit Heye Buuß, seinen Triumphmarsch zu unterbrechen. »Die Stückelung stimmt nicht«, sagte er und wiederholte auch damit die Worte Dr. Pollacseks. »Die Lohngelder bestanden aus vielen kleinen Scheinen. Was Hanna Boyken bei Geesche Jensen gefunden haben will, sind in erster Linie große Scheine.«
Heye Buuß wurde ungeduldig. »Ich hab’s Ihnen schon gesagt, Doktor! Sie wird mit den Strandräubern gemeinsame Sache machen. Die brauchen kleine Scheine, wenn sie beim Geldausgeben nicht auffallen wollen. Vermutlich haben sie nach einem Schiffbruch eine Geldkassette am Strand gefunden, die voller großer Scheine war. Mit denen können sie sich bei keinem Fischer ein Stück Makrele kaufen. Geesche Jensen hat bei ihnen das Geld eingewechselt und dabei vermutlich noch ein gutes Geschäft gemacht.«
»Und wie soll sie sich selbst ein Stück Makrele kaufen, wenn sie nur große Scheine in ihrer Truhe hatte?«, fragte Dr. Nissen.
»Sie hatte mit dem Geld vermutlich andere Pläne«, entgegnete Heye Buuß. »Und ein paar tausend große Scheine lassen sich nun mal besser verstecken als hunderttausend kleine.« Der Inselvogt wurde ungeduldig. »Nun kommen Sie schon! Sonst spricht sich am Ende noch rum, dass wir auf dem Weg zu ihrem Haus sind, und sie kann fliehen.«
Dr. Nissen schüttelte ärgerlich den Kopf. Dieser Gedanke war absurd. Genauso aberwitzig wie die Vorstellung, Geesche Jensen könne des Nachts in das Haus des Kurdirektors einsteigen und dessen Tresor ausräumen. Trotzdem setzte er nun seinen Weg fort und folgte dem Inselvogt. Ihm war klar, warum der so eifrig war. Wenn Geesche Jensen überführt war, würde er sich vor den Feriengästen damit brüsten können, dass alles getan worden war, um den Dieb so schnell wie möglich zu fassen. Und dass Geesche Jensen mit schwerer Bestrafung rechnen musste, war genauso klar, obwohl auch Heye Buuß wissen musste, dass die Hebamme keine gemeine Diebin war. Aber die reichen Sommergäste, die nach Sylt kamen, würden sich von da an in Sicherheit wiegen können. Geesche Jensen kam Heye Buuß gerade recht. Die Sorge, dass ein Feriengast, dem nicht beizukommen sein würde, den Diebstahl begangen hatte, brauchte er sich nicht mehr zu machen. Die Hebamme würde für Jahre im Gefängnis verschwinden und der Fremdenverkehr sich weiterhin ungestört entfalten können. Es sei denn, Geesche Jensen konnte erklären und beweisen, wie das viele Geld in ihre Truhe gekommen war …
Geesches Haus erschien am Ende des Weges, die Schritte des Inselvogts wurden noch energischer. Dr. Nissen dagegen ging immer langsamer. Ob Heye Buuß Einhalt zu gebieten war, wenn er ihm verriet, dass er Geesche heiraten wollte? Dass er ihr Einverständnis bereits hatte und somit
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