Hebamme von Sylt
Schnapsglas griff und es in einem Zuge leerte. Aber zum Glück kam ihr etwas inden Sinn, was einerseits der Dinnergesellschaft gefiel und andererseits Ioan Bitus Wunsch entgegenkam, über die Dichtkunst zu reden. Sie brachte den Namen Theodor Storm ins Spiel, der in den Augen der Sylter zumindest einen Widerschein hervorrief, wo es bei der Erwähnung von Ioan Bitus Lyrik nur Apathie gegeben hatte.
Dr. Pollacsek reagierte sogar sehr lebhaft. Er war ein guter Freund des großen Dichters gewesen, der einige Male auf Sylt zu Gast gewesen war. Theodor Storm war sogar der Pate seines vierten Kindes, und jeder wusste, dass Dr. Pollacsek sehr unter dem Tod seines Freundes litt. Außer Dr. Nissen war aber niemandem bekannt, dass dieser Tod im Kurdirektor nicht nur tiefe Trauer, sondern auch große Angst erzeugt hatte. Theodor Storm war an Magenkrebs gestorben, und die ersten Symptome seiner Krankheit waren ähnlich gewesen wie die, unter denen Dr. Pollacsek zurzeit litt. »Zum Glück hat er der ›Schimmelreiter‹ noch vollenden können«, erklärte er. »Vor einem Jahr war er zum letzten Mal auf Sylt, um mich zu besuchen. Er blieb leider nur zehn Tage, aber sie hatten ihm Kraft gegeben. Nach seiner Rückkehr nach Hademarschen fühlte er sich stark genug, seine Novelle zu Ende zu schreiben.«
Dass die »Sylter Novelle« dagegen unvollendet geblieben war, wusste Graf Arndt. Und ihm gelang es auch, den Weg von Theodor Storm zurück zu Ioan Bitu zu finden, indem er erwähnte, dass der deutsche Dichter ebenso wie der rumänische schon als Sechzehnjähriger seine ersten Gedichte geschrieben hatte. Tatsächlich glättete sich daraufhin Ioan Bitus Miene, der wohl schon befürchtet hatte, dass Theodor Storm ihm an diesem Abend den Rang ablaufen würde. Er äußerte sich sogar wohlwollend darüber, dass Storm dem deutschen Realismus in seinen Werken eine norddeutsche Prägung gegeben hatte, die seine Prosa besonders klar und unterscheidbar machte. Die Königin atmete erleichtert auf, weil nicht mehr zu befürchten war, dass Ioan Bitu sich sinnlos betrinken würde.
Während des Hauptgangs, der aus gefüllten Sardinen, Matjes mit Speckstippe und grünen Bohnen bestand, versuchte jeder einen Beitrag zu leisten, um die Ratlosigkeit, die bei der Erwähnung von Ioan Bitus Lyrik entstanden war, wettzumachen mit ein paar Kenntnissen über Theodor Storm, dessen schriftstellerische Arbeit immerhin einen direkten Bezug zu Sylt hatte.
»Sylter Sagen waren es«, wusste Dr. Pollacsek zu berichten, »die Storms Dichtkunst inspiriert haben. ›Der Schimmelreiter‹ wäre nicht entstanden, wenn Theodor nichts von Sylt gewusst hätte.«
Baron von Bauer-Breitenfeld konnte beitragen, dass Storm Jurist gewesen war, und seine Frau hatte gehört, dass er seine Cousine geheiratet hatte, die bei der Geburt des siebten Kindes gestorben war. Woher Gräfin Katerina die Kenntnis hatte, dass Theodor Storm sich schon ein Jahr nach seiner Hochzeit in eine andere Frau verliebt hatte, wusste niemand. Die Baronin hing an ihren Lippen, als Katerina berichtete, dass die Leidenschaft für diese Frau so groß gewesen sei, dass sie die Jahre seiner Ehe überdauert habe. Ein Jahr nach dem Tod seiner Ehefrau hatte er sie dann geheiratet. »Sie war zu dem Zeitpunkt achtunddreißig Jahre alt. Zwanzig Jahre hat sie auf ihn gewartet.«
Dr. Pollacsek legte Wert darauf, den Ruf seines Freundes hochzuhalten: »Nein, gewartet hat sie nicht auf ihn«, korrigierte er. »Das würde ja bedeuten, sie hätte auf Constanzes Tod gewartet. Oder man könnte auf die Idee kommen, Theodor hätte ihren Tod herbeigesehnt, um endlich Dorothea heiraten zu können. Nein, so war es nicht!«
Gräfin Katerina entschuldigte sich bei Dr. Pollacsek und betonte, dass sie diesen Eindruck auf keinen Fall habe erwecken wollen. »Ich weiß, er war ein untadeliger Mann.«
Dr. Pollacsek war sofort versöhnt und ergänzte, dass Theodor Storm in tiefer Trauer gewesen sei, als seine Frau Constanze starb. »Er hat ihr Ausdruck verliehen mit dem Gedichtzyklus ›Tiefe Schatten‹. Wer ihn gelesen hat, weiß, wie es nach dem Tod seiner Frau in ihm aussah.«
Ioan Bitu bestätigte es lebhaft. Er hatte »Am grauen Strand« auf dem Weg nach Sylt gelesen, nachdem es ihm in Hamburg in die Hände gefallen war, und konnte zu jeder Strophe etwas sagen, was allerdings außer ihm niemand verstand.
Graf Arndt war anscheinend in Sorge, dass das Gespräch über das Privatleben des Dichters zu Komplikationen führen
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