Hebamme von Sylt
Gräfin Katerina von Zederlitz, sein, der Königin Anerkennung für ihr literarisches Schaffen zu zollen, indem sie bewies, dass sie ihr Anliegen verstanden hatte. Dann würde die Baronin in Entzückensrufe ausbrechen und behaupten, nie von schöneren Worten berührt worden zu sein, Katerina jedoch als Einzige die Gedanken Carmen Sylvas aufnehmen und eigene hinzufügen können. Also musste sie aufhören, sich Elisas glückliches Gesicht vorzustellen, nachdem sie mit Fürst Alexander von ihrem Spaziergang im Garten der Villa zurückgekehrt war.
»Und aus der Tiefe quellen / mit immer neuer Macht / hervor die Liederwellen / vom Wald erlebt, erdacht.«
Aus dem Billardzimmer drang Gelächter. Die Tür hatte sich geöffnet, die Herren traten heraus und begaben sich in den Salon zurück. Anscheinend war es Zeit für das Dessert.
»Ein Lichtgedanke eilet / herab vom Himmelssaal …«
Frau Roth wurde nervös, sprach schneller, als es dem Text zuträglich war, und wollte jetzt nur noch, dass das Gedicht zu Ende ging, um die Lesung abzuschließen.
Als es so weit war, klappte sie das Buch zu und bat darum, sich um ihre Dienstmädchen kümmern zu dürfen, die die rote Grütze auftragen sollten.
Die Königin entließ sie huldvoll, und Katerina stellte die Frage, die sie sich vorher zurechtgelegt hatte: »Haben Sie mit Ihrer Lyrik einen Weg gefunden, Majestät, all das, was Sie bewegt,in eine Form zu geben, statt es zurückzudrängen oder auszusprechen?«
Tatsächlich schien die Königin erfreut über das Interesse an ihrem Werk, das Katerina damit zum Ausdruck brachte, während die Baronin ihr weismachen wollte, auch auf ihrer Zunge habe diese Frage gelegen. Die Baronesse dagegen sah verwirrt um sich, als sei sie soeben aus einem Traum geschreckt worden, in dem ihr der Heiland erschienen war. Zum Glück erging sich die Königin sehr lange über die Metaphern, die sie der Natur entnommen hatte, so dass keine weiteren interessierten Fragen nötig waren, weil Frau Roth ins Zimmer zurückkehrte und die Damen zu Tisch bat.
Katerina folgte der Königin mit dem Vorsatz, später im Beisein der Herren und Elisas die Romangestalt der Berthalda zu erwähnen, die eine vergiftete Hostie in den Kelch legte, damit der Priester, ihr Bruder, ihrer Todfeindin den Wein reichte, der sie umbringen sollte. Sie würde als Einzige zeigen können, dass sie viel von dem Werk Carmen Sylvas wusste.
Allerdings wurde sie von diesem Gedanken abgelenkt, als Elisa mit Fürst Alexander den Raum betrat. Katerina kannte ihre Tochter gut genug, um sofort zu durchschauen, dass Elisas Gespräch mit Fürst Alexander einen anderen Verlauf genommen hatte, als zu erwarten gewesen war. Katerina verlor einen Teil ihrer Sicherheit wieder. Was war geschehen? Elisa schien zwar ihre Angst verloren zu haben, aber das Glück strahlte ihr keineswegs aus den Augen. Es schien allenfalls die Antwort auf eine Frage zu sein, die sich in ihrem klaren Blick äußerte, wobei Katerina nicht wusste, wer sie gestellt und wer sie beantwortet hatte. Fürst Alexander wirkte zufrieden und gelöst, Elisa jedoch war von einer Nachdenklichkeit, die ihrer Mutter Sorgen bereitete.
Kaum war die Rote Grütze aufgetragen worden, die die Königin seit ihrer Ankunft auf Sylt zu ihren Leibspeisen zählte, da setzten die Herren das Gespräch fort, das sie anscheinend imBillardzimmer begonnen hatten. Es schien auf allgemeines Interesse zu treffen, wenn man einmal davon absah, dass Ioan Bitu sich gelangweilt zurücklehnte und deutlich machte, wie sehr er derartige Banalitäten verabscheute.
»Eigentlich ist die Hebamme eine geschätzte Person auf der Insel«, erklärte Dr. Pollacsek. »Dass ausgerechnet sie mir die Lohngelder gestohlen haben soll … ich kann es kaum glauben.«
Baronin von Bauer-Breitenfeld, die froh war, dass ihr die Sorge vor einer längeren Erörterung der königlichen Literatur genommen wurde, ging bereitwillig auf das Gespräch ein. »Sie wurde also nicht auf frischer Tat ertappt?«
Dr. Pollacsek warf Ioan Bitu einen unsicheren Blick zu, der, während im Billardzimmer geraucht worden war, seine neusten Werke aus seinem Zimmer geholt hatte und nun in ihnen herumblätterte, um zu entscheiden, welche er nach der Roten Grütze vortragen wolle. Ungehalten blickte der Dichter auf. Anscheinend fürchtete er, dass über diese Sensation seine Lyrik ins Hintertreffen geraten könnte.
Während Dr. Pollacsek zu berichten begann, dass er im letzter Zeit häufig von heimlichen Schritten,
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