Hebamme von Sylt
gut zu ihr. Was für ein Glück, dass mein Jens nicht mehr miterleben muss, wie böse seine Tochter ist!«
Nun war es mit Hannas Überheblichkeit vorbei. Sie stieß sich von der Hauswand ab und humpelte auf Freda zu. »Das ist nicht wahr«, sagte sie, und ihr Gesicht verzerrte sich wie unter einem großen Schmerz. »Ich bin nicht böse!«
Aber Freda, die sonst nach allem griff, was ihre Tochter entlastete, wollte ihre Ausflüchte diesmal nicht hören. »Seit die Comtesse dich ihre Freundin nennt, ist es noch schlimmer geworden mit dir. Und seit du das weiße Band hast, meinst du wohl, ein Band im Haar macht aus dir ein vornehmes junges Mädchen? Und nur, weil der Graf freundlich zu dir ist …«
Ebbo ging dazwischen. »Lass sie, Mutter.« Schützend stellte er sich vor seine Schwester. »Hanna ist nicht böse.«
Geesche hätte seine Worte gern bekräftigt, hätte bereitwillig Schimpf und Schande von Hanna genommen, wäre sogar bereit gewesen, sie in den Arm zu nehmen … aber in diesem Moment beschloss Heye Buuß, alle Umstehenden mit seiner Machtausübung zu beeindrucken. Er holte einen Strick aus seiner Hosentasche und gab Geesche ein Zeichen, damit sie ihm ihre Handgelenke reichte.
»Nein! Nicht fesseln!«, rief Dr. Nissen, der als Erster durchschaute, was der Inselvogt vorhatte. »Sie wird nicht fliehen.«
Auch Ebbo versuchte, den Inselvogt von seinem Vorhaben abzubringen, aber der blieb unerbittlich. »Wenn sie mir entwischt, muss ich mir Vorwürfe gefallen lassen.«
Sogar Hanna schien ein gutes Wort für Geesche einlegen zu wollen, aber lautes Geschrei hielt sie davon ab. Eine Horde Inselbahnarbeiter kam den Weg entlanggelaufen. Mindestens ein Dutzend war es, mit Werkzeug bewaffnet, das die Männer drohend über den Köpfen schwangen. Freda drückte sich ängstlich neben Hanna an die Hauswand, Dr. Nissen wich in den Schatten des Eingangs zurück, Heye Buuß schob Geesche ein Stück vor, als wollte er sich notfalls hinter ihr verstecken. Er war noch nicht fertig mit der Fesselung, hatte den Strick aber bereits um Geesches Handgelenke gelegt und hielt sie damit fest.
»Da ist sie!«, schrie der Erste der herannahenden Arbeiter.
»Die gemeine Diebin!«
»Gib uns unser Geld zurück!«
Als die Männer näher kamen, fiel Heye Buuß ein, dass ein Inselvogt die Aufgabe hatte, seine Bürger zu schützen. Auch die, die straffällig geworden waren. Nun stellte er sich vor Geesche und gab den anderen ein Zeichen, dass sie sich ins Haus zurückziehen sollten.
Aber nur Freda folgte seinem Wink. Hanna blieb an der Hauswand stehen, Ebbo ging den Inselbahnarbeitern sogareinen Schritt entgegen, und Dr. Nissen traute sich aus dem Haus, wenn er sich auch weiterhin im Schutz der Tür hielt.
Piet, ein etwa dreißigjähriger Mann, der früher Knecht bei einem Bauern im Listland gewesen war, ehe er Arbeit bei der Inselbahn angenommen hatte, machte sich zum Wortführer der Gruppe. »Wir wollen unser Geld! Wenn Geesche es hat, dann soll sie es uns geben.«
Heye Buuß machte eine abwehrende Geste. »Sobald ihre Schuld bewiesen und sie verurteilt ist, bekommt Dr. Pollacsek das Geld zurück.«
»Und wie lange dauert das?«, fragte Piet, und die anderen wiederholten diese Frage in unterschiedlichen Lautstärken und mehr oder weniger drohend.
»Das kann ich nicht sagen«, antwortete Heye Buuß. »Der Richter muss erst vom Festland kommen. So lange müsst ihr euch gedulden.«
»Soll ich das meiner Frau sagen, wenn sie nicht weiß, was sie unseren Kindern zu essen geben soll?«
Heye Buuß wurde ungeduldig. »Das ist nicht mein Problem. Dr. Pollacsek hat versprochen, euch auszubezahlen, sobald er Geld vom Festland bekommen hat.«
»Davon werden wir nicht satt!«
Piet trat einen Schritt vor, musterte Geesche von oben bis unten, legte so viel Verächtlichkeit in seinen Blick wie ihm eben möglich war, dann spuckte er ihr ins Gesicht. So unvermittelt, dass sie keine Gelegenheit sich zu ducken und der Demütigung auszuweichen.
Geesche kniff die Auge zusammen, wollte ihren Arm aus der Schlinge befreien, um den Geifer abzuwischen, aber Heye Buuß hielt den Strick so fest, dass sie zulassen musste, wie er über ihre Augen lief, die Wange hinab, bis in ihre Mundwinkel. Ebbo war es schließlich, der zu ihr trat, sein Hemd aus der Hose zog und mit einem Zipfel ihr Gesicht abwischte. Geesche öffnete die Augen und sah ihn dankbar an.
»Wir hätten sie allein in die Zange bekommen müssen«, sagte Piet zu seinen Gefährten. »Dann
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