Hebamme von Sylt
hätten wir uns an ihrem Hausrat schadlos halten können.«
Nun wurde Heye Buuß so ärgerlich, dass er den Strick losließ, den er um Geesches Hände geschlungen hatte. Er machte einen drohenden Schritt auf Piet zu. »Wenn jemand in Geesches Haus einbricht, während sie im Gefängnis sitzt, kann er was erleben. Dann werdet ihr behandelt wie jeder andere Dieb auch. Habt ihr das verstanden?«
Heye Buuß merkte, dass die erste Aufregung sich legte. Unauffällig tastete er nach seinem Hosenbund, um zu prüfen, ob das Geld noch dort saß, wo es hingehörte. Dann knüpfte er den Strick so fest um Geesches Hände, dass sie leise aufschrie. Mit dem rechten Knie stieß er ihr in die Beine. »Geh los! Sei froh, dass du nicht hier bleiben musst. Piet und seine Leute hätten dich wahrscheinlich gelyncht.« Er lachte hämisch, aber jeder konnte sehen, dass ihm die Verächtlichkeit nicht leichtfiel. »Du kannst dich freuen! Das Gefängnis ist zurzeit leer. Der alte Nermin wird froh über deine Gesellschaft sein. Dass er den Gefangenen gern das Brot wegisst, weißt du sicherlich. Aber vielleicht hast du Glück, und jemand bringt dir was zu essen.«
Geesche merkte, dass die hässlichen Worte nicht für sie, sondern für die Inselbahnarbeiter bestimmt waren. Ihr Rachedurst wurde gelöscht, als sie sahen, dass Geesche ihre verdiente Strafe erhielt und so schlecht behandelt wurde, wie es sich für eine Diebin gehörte. Plötzlich spürte sie Ebbo an ihrer Seite, der dafür sorgte, dass sie die Gasse, die sich bildete, durchschreiten konnte, ohne noch einmal bespuckt zu werden. Die Worte, die man ihr entgegenschleuderte und nachrief, kümmerten sie nicht weiter. Sie waren schon jetzt Teil eines Lebens, das sie hinter sich lassen musste. Vor sechzehn Jahren hatte sie es verspielt, dieses Leben. Sie konnte froh sein, dass ihr diese Gnadenfrist vergönnt gewesen war.
Am Ende des Weges hatte Geesche Gelegenheit, sich umzudrehenund einen letzten Blick zurückzuwerfen. Das Bild, das sich ihr bot, würde sie niemals vergessen. Ebbo in kämpferischer Pose vor dem Steinwall, Hanna, die sich von der Hauswand gelöst hatte und ihr ein paar Schritte nachhumpelte, als wollte sie alles wieder rückgängig machen, was sie angerichtet hatte, Freda, die sich in Dr. Nissens Nähe hielt, und er, der in der Tür stand, als wäre er bereits der Hausherr. Ihr war, als hätte sie ihr Leben an diese vier verschenkt. Und als Leonard Nissen sich umdrehte, hatte sie sogar das Gefühl, dass ihr dieses Leben nie gehört hatte. Was hätte Marinus an Dr. Nissens Stelle getan? Sie verteidigt? Sie begleitet? Sie zu retten versucht?
Nun war dieser Mann, den sie kurz vorher noch ihren Verlobten genannt hatte, verschwunden, die Tür hatte sich geschlossen, Geesche Jensen war trotz der Gesellschaft, in der sie sich befand, allein. So einsam wie nie zuvor in ihrem Leben. Noch einsamer, als sie im Gefängnis von Westerland jemals sein konnte.
Die Gräfin wurde unruhig. Frau Roth las ein Gedicht nach dem anderen, ohne den Zuhörerinnen Gelegenheit zu geben, den Metaphern nachzugehen. Nur mit großer Mühe konnte Katerina sich konzentrieren, und sie schaffte es auch nur deshalb, ihre Gedanken nicht abschweifen zu lassen, weil sie fürchtete, dass Königin Elisabeth beim Dessert ihre Meinung zu dem einen oder anderen Gedanken, den sie formuliert hatte, einholen könnte. Dann wollte sie mit ihrer Bildung und ihrem Scharfsinn glänzen, damit der Königin aufging, dass ihr junger Verwandter sich für eine Frau entscheiden würde, die aus einer literaturbegeisterten Familie stammte.
Sie richtete sich so weit auf, dass ihre Wirbelsäule nur noch sanft die Rückenlehne des Stuhls berührte, aber nicht von ihr gestützt wurde, und verbot sich, an ihre Tochter und den Fürsten zu denken. »Es fallen die Gedanken / wie Blätter ab vomBaum …« Daraus ließ sich nachher bei Tisch die Frage entwickeln, ob es erlaubt sein sollte, sich spontan zu äußern, und ob es nicht wertvoller sei, sie so lange für sich zu behalten, bis einem Gedanken ein Folgeschluss beitrat, der aus dem Denken erst einen Gedanken machte. Die Baronin würde dazu nichts beizutragen haben, die Baronesse, die mit gefalteten Händen dasaß, schien sich mit einem Gebet zu beschäftigen statt Frau Roth zuzuhören, und würde später genauso schweigen, wie sie während des Essens geschwiegen hatte. Und Frau Roth würde sich zurückhalten, weil sie sich nicht zu den Gästen zählte. Es würde also an ihr,
Weitere Kostenlose Bücher