Hebamme von Sylt
sie Hanna schlecht behandelte. Aber sie war unfähig, zu dem Vertrauen zurückzufinden,das es einmal gegeben hatte. Was sie bisher Verlässlichkeit genannt hatte, war nun Indiskretion geworden.
Der alte Nermin war kein böser Mensch. Zwar fügte er anderen oft Böses zu, aber er tat niemals etwas Verbotenes. Es war ihm eingeschärft worden, keinen Gefangenen entkommen zu lassen, also bewachte er sie gut. Alles Böse, was er tat, hatte ihm niemand verboten. Und es geschah nur, weil ihm irgendwann aufgegangen war, dass niemand sich leisten konnte, Gutes zu tun, der sich täglich ums Überleben sorgen musste. Um ein guter Mensch zu werden, musste man reich sein, davon war Nermin überzeugt. Wer arm war, musste sehen, wie er sich durchs Leben schlug, und dabei durfte er in der Auswahl seiner Möglichkeiten nicht kleinlich sein. Notfalls musste man dann sogar Böses tun. Nermin hatte durchaus Mitleid mit der Hebamme, die an diesem Morgen nichts zu essen bekommen würde, aber sie anders zu behandeln als die vielen Gefangenen, die vor ihr hier gesessen hatten, kam nicht in Frage.
»Irgendwann wird dich jemand besuchen, der einsieht, dass er was mitbringen muss, wenn es dir bessergehen soll.«
Freda war gleich am Tag nach ihrer Verhaftung gekommen, aber mit leeren Händen. »Du bist keine Diebin, Geesche! Ich weiß es! Warum sagst du nicht, woher du das Geld hast? Dann muss Hanna ihre schreckliche Anschuldigung zurücknehmen.«
Aber Geesche hatte nur den Kopf geschüttelt. »Schimpf nicht mit Hanna.« Dann hatte sie Freda gebeten, ihr etwas aus ihrer Speisekammer zu bringen. »Den Schinken. Aber bring reichlich, denn der alte Nermin verlangt seinen Anteil.«
Freda hatte genickt, dann aber lange auf ihre Hände gesehen, wie sie es immer tat, wenn sie etwas bedrückte, mit dem sie keinem anderen das Herz schwermachen wollte. Schließlich hatte Geesche es aber doch aus ihr heraus gefragt. »Ich habe Angst um deinen Besitz, Geesche! Dr. Nissen wohnt zwar in deinemHaus und wird ein Auge darauf haben, aber …« Hilflos brach sie ab und ergänzte: »Die Arbeiter der Inselbahn sind wütend auf dich. Sie wollen, dass du sie bezahlst. Wenn nicht mit Geld, dann eben mit deinen Möbeln, dem Samowar, dem Silber, dem schönen Geschirr …«
Geesche wollte diese Angst nicht an sich herankommen lassen. »Heye Buuß hat ihnen gesagt, dass sie sofort in Verdacht geraten würden, wenn in meinem Haus eingebrochen wird.«
Freda hatte geseufzt, als glaubte sie nicht daran, dass sich davon ein rachedurstiger Inselbahnarbeiter zurückhalten lassen würde. Die Falten, die sich schon früh in ihre Stirn gegraben hatten, bildeten nun über der Nasenwurzel einen kleinen Krater. »Wenn Dr. Nissen zum Strand geht, werden Ebbo und ich dein Haus bewachen. Ich hoffe, wir können das Schlimmste verhindern.« Dann hatte sie tief Atem geschöpft und sich um eine optimistische Miene bemüht. »Zum Glück habe ich das Geld, das Marinus Rodenberg mir gegeben hat. Wenn der alte Nermin bestochen werden will, dann ist das Geld dafür genau richtig. Es steht mir ja sowieso nicht zu …«
Der Gefängniswärter schlurfte in ihre Zelle und stellte Geesche einen Becher mit Wasser hin, dann verließ er sie wieder und verriegelte geräuschvoll die Tür.
Geesche ließ sich auf die Pritsche zurückfallen. Besser, sie teilte die Wasserration gut ein. Es konnte sein, dass dies der einzige Becher war, den Nermin ihr hinstellte.
Am Tag zuvor war auch Ebbo gekommen. Aber er hatte sich nicht lange aufgehalten, und ihn hatte sie nicht gebeten, ihr etwas zu essen zu bringen.
»Dr. Nissen sagt, Hanna könnte es selbst gewesen sein«, hatte Ebbo erzählt. »Er glaubt, sie hat den Tresor ausgeräumt und dir dann die Schuld in die Schuhe geschoben. Kann das sein?«
»Nein!« Geesche war erschrocken aufgefahren. »Pass auf, Ebbo, dass Hanna nichts geschieht.«
Daraufhin war sein Blick verächtlich geworden. »Du warst es also tatsächlich!« Er war aufgestanden und hatte einen Schritt auf die Tür zu gemacht. »Ich verstehe das nicht. Du hast ein schönes Haus, du hast dein Auskommen, ein gutes Leben. Warum musst du stehlen?«
Ebbo würde nicht noch einmal kommen. Aber vielleicht … Leonard Nissen? Ihn würde sie auch um Geld für Nermin bitten können, damit er sie gut versorgte. Aber ob er bereit war, ihr zu helfen? Geesche glaubte es nicht. Vermutlich hatte er ihre Verlobung gelöst, kaum dass sie verhaftet worden war. Ein Mann wie Leonard Nissen heiratete keine
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