Hebamme von Sylt
vorzustellen, an einem Winterabend auf dieser Pritsche zu liegen. Oder in einer Sturmnacht wie der vor sechzehn Jahren …
»Hanna! Du hast recht, wenn du mich verabscheust! Immer hast du es gespürt, von dem Tag an, an dem Freda dichzum ersten Mal wieder in mein Haus trug. Du hast geschrien, als ich dich von ihrem Arm nahm, als wüsstest du, dass ich dir etwas genommen hatte. All die Jahre habe ich versucht, dafür zu bezahlen. Du wusstest nicht, wofür, aber du warst dir immer darüber im Klaren, dass ich nicht ehrlich mit dir umging. Und dafür hast du mich gehasst. Es geschieht mir auch ganz recht, dass aus dir kein Mensch geworden ist, den man gern haben muss. Nein, es war richtig, dass du es mir nicht so einfach gemacht hast. Und es ist auch richtig, dass ich jetzt bezahlen muss. Mit dem Geld, mit dem ich dein Leben verkauft habe. Alles richtig!«
Geesche begann zu weinen, leise, ohne sich mit einem Schluchzen zu verraten. Ihre Tränen flossen wie ein sanfter Strom, ohne Strudel und Untiefen, ohne aufgehalten zu werden.
»Ach, Marinus! Ich hätte dabei bleiben sollen, dass die Hebamme Geesche Jensen nicht den Bruder des Grafen von Zederlitz heiraten kann. Nach Andrees durfte es keine Liebe mehr für mich geben. Ich habe es gewusst – und mich trotzdem verleiten lassen. Marinus, auch du wirst mich jetzt hassen. Genau wie Hanna! Vielleicht hasst mich auch der Graf, weil er fürchtet, dass ich nun das Geheimnis verrate. Die Comtesse würde mich hassen, wenn sie wüsste, dass ich ihr die Wurzeln genommen habe, die Gräfin, wenn sie eine Ahnung davon hätte, dass das Glück über ihre schöne, gesunde Tochter ein gestohlenes Glück ist. Und Leonard Nissen wird mich hassen, wenn er einsieht, dass ich mich nur für ihn entscheiden wollte, um Marinus vergessen zu können. Und Freda! Mein Gott, wie würde sie mich hassen! Ihr schönes, gesundes Kind, das in ihr trostloses Dasein etwas Licht gebracht hätte! Die bildhübsche, liebenswerte Tochter, die einen guten Mann geheiratet und Freda eine Familie geboten hätte. Und Ebbo? Seinen Hass mag ich mir gar nicht vorstellen. Durch meine Schuld ist Elisa unerreichbar für ihn geworden. Ganz allein durch meine Schuld!«
Hass! Schuld! Die Nacht war voller Schuld, das von den Gittern gestreifte Mondlicht voller Hass. Das Brot, das Nermin ihr hingestellt hatte, das Wasser, das sie von ihm bekam – alles voller Hass und Schuld.
»Deinen Eimer musst du selber ausleeren«, hatte er gesagt und ihr einen Strick um den Hals gebunden, ehe er sie hinters Haus führte, wo es ein Jaucheloch gab, über dem die Fliegen schwirrten. Jede einzelne vom Hass so feist geworden.
»Wenn du eine Kerze willst, müssen deine Angehörigen dafür bezahlen!«
Auch dieser alte Mann war voller Hass. Die schwere Tür, der Schlüssel, die Schritte, die sich entfernten – alles voller Schuld und Hass!
Tag und Nacht, Brot und Wasser, Wärme und Kälte, Verzweiflung und Unterwerfung, sie wusste nicht mehr, wie oft sich alles abgewechselt hatte. War die Sonne einmal, zweimal oder dreimal aufgegangen? Oder noch öfter? Hatte sie geschlafen, weil es Nacht war oder weil sie sich im Traum vor dem Erwachen verstecken wollte? Wie lange würde das noch so gehen? Bis Heye Buuß sie ein weiteres Mal verhörte? Bis der Richter vom Festland kam? Bis ein Urteil gesprochen wurde? Bis ihre Strafe verbüßt war? Wann würde das sein?
»Gib sie uns raus! Wir wollen sie haben! Liegt da auf der faulen Haut und lässt sich ernähren! Gib sie uns! Wir werden ihr zeigen, was mit Leuten geschieht, die uns um unseren Lohn bringen!«
Aber der alte Nermin war unerschütterlich geblieben. Seine Stimme hatte sich nicht einmal erhoben, als die Arbeiter der Inselbahn vor dem Gefängnis erschienen waren.
»Sie ist eine Schande für Sylt! Eine Hebamme, die Lohngelder stiehlt!«
»Weil sie kein Gewissen hat!«
Aber Nermins Stimme war ganz ruhig geblieben, als er die Meute von der Schwelle wies. Als die Stimmen nur noch ausder Ferne zu hören gewesen waren, hatte er plötzlich in ihrer Zelle gestanden und gesagt: »Das kostet! Wenn du nicht willst, dass diese Kerle dich lynchen, musst du bezahlen. Zu wem soll ich meinen Sohn schicken?«
Geesche hatte ihn lange angesehen. »Ich habe niemanden, der für mich bezahlt.«
Wann war das gewesen? Heute? Gestern? Vorgestern? Oder lag sie schon seit Wochen auf dieser Pritsche?
Elisa war früh aufgestanden. Sie hatte unruhig geschlafen, mal von Alexander, mal von Ebbo geträumt und
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