Hebamme von Sylt
hat und die Küche erst schließt, wenn kein Gast mehr hungrig ist.«
Dr. Nissen nickte unkonzentriert, und der Kurdirektor beschloss, auf Nummer sicher zu gehen.
»Schade! Ich hätte Sie gern nach der Einweihung zu einem Glas Wein zu mir eingeladen.«
»Sie sollten vorsichtig sein mit Wein. Wenn überhaupt, dann Rotwein, der ist bekömmlicher als Weißwein.«
Pollacsek, der zurzeit keine Magenbeschwerden hatte, überhörte diesen Einwand. »Graf von Zederlitz werde ich auch zum Wein bitten. Und natürlich Baron von Bauer-Breitenfeld.«
»Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend«, sagte Dr. Nissen steif. »Aber leider … ich werde den ganzen Abend mit meinem Freund verbringen.«
Dr. Pollacsek war zufrieden. Er sah zu den kleinen Federwolken empor, die sich vor die Sonne schoben und das Licht verschleierten, sah auf das Meer hinaus, das noch immer von dieser schönen blauen Farbe war, freute sich an dem strahlendenWeiß der vielen Schaumkronen und versuchte, sein Pferd so nah an der Wasserkante entlangzuführen, dass er ständig Gefahr lief, von einer der lustigen schnellen Sommerwellen erwischt zu werden. Dr. Nissen liebte diese Spielchen nicht, er hielt sich mehrere Meter von Pollacsek entfernt. Und der Kurdirektor war froh darüber. So hatte er Zeit, darüber nachzudenken, wie er mit seiner Entdeckung umgehen sollte.
Geesche hielt sich nun wieder in der Nähe der Kliffkante auf, wo es kühler war, wo der Wind ihr Gefährte und das Meer ihr Weggenosse war. Hier gab es genügend Dünentäler, in denen sie sich blitzschnell verstecken konnte, falls sie jemanden sah, der ihr gefährlich werden konnte. Und jeder Mensch, der ihr begegnete, konnte ihr gefährlich werden. Nicht nur die Strandräuber, die ihr nach dem Leben trachteten, auch jeder andere Sylter, der wusste, dass sie verhaftet worden und aus dem Gefängnis ausgebrochen war. Sie war zur Vogelfreien geworden, sie, die bisher allseits geachtete Hebamme von Sylt, bei der man gern Hilfe suchte.
Sie war erleichtert, als sie die ersten Hütten der Halmreeper sah, weil damit die Gefahr abnahm, von einem Strandräuber verfolgt und eingeholt zu werden. In der Nähe menschlicher Behausungen hielten sie sich selten auf. Die Halmreeper waren armselige Leute, schlecht ernährt, geschwächt von ihrer Armut und der Hoffnungslosigkeit. Sie würden Geesche vielleicht verraten, wenn man sie nach ihr fragte, aber ihr sicherlich nicht folgen, wenn sie floh.
Weiter durfte sie sich jedoch nicht nach Westerland hinein trauen. Nicht bis zu den Häusern der rechtschaffenen Bürger! Nicht dorthin, wo es einen kleinen Wohlstand gab, der gut gehütet wurde. Auch nicht zu den Hütten, die sich zur Kirche ausgerichtet hatten, in denen gebetet und gefastet wurde, damit der Pfarrer zufrieden war und im Himmel ein gutes Wort für seine frommen Schäflein einlegte.
Geesche duckte sich hinter dichtem Dünengras und sah sich um. Hier irgendwo musste sie den Einbruch der Dunkelheit abwarten. Solange es hell war, durfte sie nicht weitergehen. Es war zu gefährlich. Erst im Schutz der Dunkelheit konnte sie zu Freda Boykens Kate schleichen. Und sie musste ihr eigenes Haus so weit umgehen, dass sie es nicht einmal aus der Ferne sehen konnte. Es würde ihr das Herz brechen.
Sie duckte sich tiefer, als sie eine Halmreeperin sah, die vor ihre winzige Hütte trat, einen breiten hölzernen Rechen geschultert. Sie kannte Edna, die alte Witwe. Anscheinend machte sie sich auf, um neue Halme zu ernten, aus denen sie dann Wäscheleinen drehte oder Binsen für die Stühle der Sylter, die sich solche Möbel leisten konnten.
Geesche wartete geduldig, bis Edna außer Sichtweite war, dann lief sie geduckt auf ihre Hütte zu. Edna würde so bald nicht wieder auftauchen, vermutlich erst bei Einbruch der Dämmerung. So lange war sie hier sicher, wenn sie die Umgebung im Auge behielt, damit sie fliehen konnte, sobald Edna zurückkam oder sich ein anderer ihrer Hütte näherte.
Erst nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, lief sie los. Und schon wenige Augenblicke später stand sie in Ednas Hütte. Sie schluckte angesichts der bitteren Armut, die sich ihr präsentierte. Gestampfter Lehmboden, hölzerne, notdürftig mit Moos abgedichtete Wände, durch die in der kalten Jahreszeit der Wind pfeifen musste, ein fauliges Strohlager, ein wackeliger Schemel. Das waren Ednas Besitztümer. In einer Ecke lag auf der Erde ein in schmuddeliges Tuch gehülltes Brot. Geesche musste ihre
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