Hebamme von Sylt
Kaffeebohne?«
Dr. Nissen lächelte verlegen. »Ich leide unter Mundgeruch. Das ist mir unangenehm, ich rede nicht gerne darüber.«
Pollacsek war sehr interessiert. »Es hilft, wenn man eine Kaffeebohne kaut? Ich habe auch gelegentlich Mundgeruch. Meine Frau mag das gar nicht.«
Dr. Nissen nickte. »Wenn Ihre Frau das nächste Mal zu Besuch nach Sylt kommt, sollten Sie sich vorher Kaffeebohnen besorgen. Erwarten Sie Ihre Frau schon bald? Dann überlasse ich Ihnen gerne ein paar Bohnen.«
Aber Dr. Pollacsek wehrte ab. »Nein, nein, ich habe sie erst kürzlich auf dem Festland besucht.«
»Trotzdem.« Dr. Nissen griff noch einmal in seine Jackentasche, zog zwei Kaffeebohnen hervor und reichte sie dem Kurdirektor. »Mundgeruch ist unangenehm. Wer magenkrank ist, leidet noch häufiger darunter als andere.« Wieder lächelte er, als sprächen sie von einer Unart, für die man sich schämen müsse. »Sonst nehme ich sie nur, wenn ich allein bin. Wer redet schon gern über Mundgeruch? Aber nun … haben wir eben ein kleines Geheimnis.«
Dr. Pollacsek nickte, schob sich eine Kaffeebohne in den Mund und zerkaute sie, während er die andere in seine Tasche gleiten ließ. »Danke.«
Nun erst merkte er, dass Michelsen immer noch nicht weitergekommen war, und fand es mit einem Mal unpassend, dass Dr. Nissen untätig daneben stand, während sein Hausdiener sich abmühte. Wieder griff er nach Haukes Händen und bat Dr. Nissen: »Können Sie Michelsen beim Schieben helfen? Er schafft das nicht allein.«
Dr. Nissen tat es sichtlich ungern, aber er tat es. Und er warauch bereit, dabei zu helfen, den Toten auf dem Pferd festzubinden. Wie unkonzentriert Dr. Pollacsek bei der Sache war, schien ihm gar nicht aufzufallen. Er merkte nicht einmal, dass der Kurdirektor es nicht schaffte, den Blick von ihm abzuwenden.
Erst als Hauke Bendix bäuchlings auf dem Pferderücken lag und keine Gefahr mehr bestand, dass er auf dem Weg nach Westerland herunterrutschte, hatte Dr. Pollacsek sich so weit wieder in der Hand, dass ihm das Erstaunen nicht mehr vom Gesicht abzulesen war. Er griff nach dem Zügel seines Pferdes und führte es hinter Michelsens Gaul her. Dr. Nissen trottete neben ihnen her, in Gedanken versunken, was Pollacsek sehr gelegen kam, denn eine Konversation wäre ihm vermutlich nicht gut gelungen. Die Gedanken pochten hinter seiner Stirn und formierten sich schließlich zu einem einzigen, der alles auf den Kopf stellte: An dem Morgen, an dem er seinen Tresor mit offener Tür und ausgeräumt vorgefunden hatte, war ihm etwas Merkwürdiges aufgefallen, eine Kaffeebohne auf dem Fußboden. Und diesem schrecklichen Gedanken schlossen sich gleich zwei weitere an. Er hatte Dr. Nissen gezeigt, dass der Tresor sich hinter einem Bild befand, und ihm ebenfalls erzählt, dass er den Schlüssel neben seinem Bett aufzubewahren pflegte. Prompt fiel ihm auch seine Angst ein, als er Schritte gehört hatte, und seine Erleichterung, als es Dr. Nissen gewesen war, der vor seiner Tür gestanden hatte.
»Jesus«, flüsterte er unhörbar. War er verrückt geworden? Sah er Gespenster? Ein Mann wie Dr. Nissen … das war doch ganz und gar unmöglich!
Er begann wieder mit dem Arzt zu sprechen, als erhoffte er sich eine Antwort von ihm, die jeden seiner schrecklichen Gedanken ad absurdum führte, als wollte er unbedingt herausfinden, dass Dr. Nissen noch immer der war, den er schätzte.
»Am frühen Abend wird übrigens der Gedenkstein eingeweiht, den die Königin dem Friedhof der Heimatlosen gestiftethat. Sie werden doch auch dabei sein? Graf und Gräfin von Zederlitz kommen natürlich auch. Und die Comtesse wird zum ersten Mal an der Seite ihres zukünftigen Gatten stehen.«
Dr. Pollacsek wunderte sich darüber, dass Nissen regelrecht erschrak. Hastig wehrte er ab. »Nein, nein, da gehöre ich nicht hin. Das ist nur für die Honoratioren der Insel.«
Pollacsek versuchte zu lachen. »Wenn Sie erst hier praktizieren, werden Sie auch dazugehören. Spätestens dann!«
Doch Dr. Nissen, den er bisher für einen Mann gehalten hatte, der sich gern in präsentabler Gesellschaft blicken ließ, wehrte noch heftiger ab. »Nein, tut mir leid. Ich bin verabredet. Ein alter Studienfreund ist seit gestern auf Sylt. Wir wollen das Konzert im Conversationshaus besuchen und danach im ›Dünenhof‹ essen.«
Dr. Pollacsek spürte, dass er lächelte, und wandte sich schnell ab, damit Dr. Nissen es nicht bemerkte. »Gut, dass der ›Dünenhof‹ so lange geöffnet
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