Hebamme von Sylt
ganze Kraft aufbringen, um sich nicht ein Stück abzureißen, so hungrig war sie. Aber sie bezwang sich.
Aufatmend ließ sie sich auf den Schemel sinken. Fürs Erste war sie in Sicherheit. Was aber war mit Marinus geschehen? War er Hauke in die Hände gefallen? Was, wenn er an der Hütte auf Marinus gewartet hatte? Der Kerl war angeschlagen,hatte nicht mehr viel Kraft zum Kämpfen, aber wenn er den Überraschungsmoment nutzte oder wenn er seine Kumpanen zu Hilfe geholt hatte … dann war Marinus verloren.
Es hielt sie nicht auf dem Schemel. Geesche sprang wieder auf, ging zu dem winzigen Fenster und blickte hinaus. Niemand war zu sehen. »Marinus! Wo bist du?«
Verzweifelt redete sie sich ein, dass Hauke Bendix an Marinus nicht interessiert war. Womöglich hatte er sich aus dem Staube gemacht, nachdem er hatte einsehen müssen, dass ihr die Flucht gelungen war.
Sie ließ sich auf den Schemel zurücksinken. Warum? Was wollte dieser Kerl von ihr? Warum wollte er sie umbringen? Sie kannte ihn kaum, hatte nie ein Wort mit ihm gewechselt. Wer hatte ihm diesen Hass auf die Hebamme von Sylt eingeflüstert? Oder … Geesche stockte der Atem. Oder gehörte der Hass zu einem ganz anderen? War der Mann, der sie töten wollte, nur der verlängerte Arm eines anderen, der sie loswerden wollte? Geesche stöhnte auf. Natürlich! Das musste es sein! Hauke Bendix war der Bruder des Gärtners, den Graf Arndt beschäftigte. Es war also möglich, dass er ihn kannte. Und Graf Arndt war niemand, der sich seine Hände selber schmutzig machte. Aber dass er Angst hatte, sie könnte unter der Last ihrer Gefangenschaft die Wahrheit sagen, lag auf der Hand. Wenn sie nicht mehr lebte, würde die Wahrheit für immer unter einer Decke des Schweigens verborgen bleiben. Auf Marinus, der dann sein einziger Mitwisser sein würde, konnte er bauen, aber ihr, der Hebamme, traute er zu, den Schwur zu brechen, den sie einander in der Sturmnacht vor über sechzehn Jahren geleistet hatten.
XX.
Hauke Bendix war auf der letzten Kirchenbank von St. Niels abgelegt worden. Pollacsek hatte Michelsen zum Inselvogt geschickt, nun war er mit dem Toten allein. Er sah auf das wachsbleiche Gesicht hinab, auf die bläulichen Lider und spürte die Kälte, die von dem Toten ausging. Dann griff er in seine Jackentasche und tastete nach der Kaffeebohne. Er hielt die Hand in der Tasche, während er den Kirchengang entlang bis zum Altar ging. Julius Pollacsek schien es, als könnte er hier, in der Nähe des Herrn, einen Hinweis bekommen. War Dr. Nissen ein Dieb? Er starrte die Altardecke so lange an, bis ihm die Idee kam, dass der Arzt sein Mittel gegen Mundgeruch einem anderen empfohlen haben könnte. Dem Dieb der Lohngelder! Geesche Jensen?
Pollacsek merkte, dass er sich Gewissheit verschaffen musste, beschloss aber, Heye Buuß vorerst nichts von der Kaffeebohne und seinem Verdacht zu erzählen. Der Inselvogt wollte sowieso nichts davon hören, dass er die Falsche verhaftet hatte. Jetzt, da Geesche sogar als Mörderin galt, erst recht nicht. Dr. Pollacsek würde sich selbst darum kümmern müssen. Und er wusste auch, wie.
Die Tür öffnete sich, der Pfarrer erschien. Er sagte kein Wort zur Begrüßung, warf dem Kurdirektor nur einen strafenden Blick zu, dann ging er zu dem Toten und betrachtete ihn. Kopfschüttelnd wandte er sich dann Pollacsek zu. »Ein Gottloser in meiner Kirche! Schaffen Sie den Kerl sofort heraus!«
Dr. Pollacsek trat zu ihm und hob besänftigend die Hände. »Er ist ein Kind Gottes. So wie Sie und ich.«
»Ein Strandräuber, der seit Jahren nicht zum Gottesdienst erschienen ist!«
»Nun ist er tot, Hochwürden. Ermordet! Wollen Sie ihn wirklich ohne Ihren Segen von uns gehen lassen?«
Der Pfarrer zögerte, sein dicker Bauch unter dem Talarbebte, die Finger umklammerten das Gebetbuch, das er immer mit sich führte. Aber ehe er sich zwischen Strenge und Langmut, zwischen den Gesetzen der Kirche und der allumfassenden Liebe eines Christen entschieden hatte, sprang die Tür auf, und Heye Buuß erschien in der Kirche. Breitschultrig, breitbeinig, mit der ganzen breiten Bedeutung seines Amtes und seiner Wichtigkeit. Er trug eine graue Stoffhose und eine schwarze Jacke, darunter ein weißes Hemd mit einem hohen Kragen, über den er ein dunkelrotes Tuch gebunden hatte. Anscheinend hatte er sogar versucht, seine rote struppige Mähne zu bändigen und dem Stallgeruch, der ihm ständig anhaftete, mit Seife zu Leibe zu rücken. Heye Buuß war also
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