Hebamme von Sylt
Bier auszugeben, das ihre Frauen für den Unterhalt der Familie brauchten. Im »Alten Jennes« jedoch verkehrten auch die Honoratioren, die nach dem Gottesdienst hier zu einem Frühschoppen einkehrten, der nur so lange dauerte, bis die Familie sich zum Sonntagsessen zusammenzufinden hatte. Manche Ehefrau schickte dann notfalls eins der Kinder in den »Alten Jennes«, um den Vater an den heimischen Herd zu holen, was in anderen Schenken niemals geschehen wäre, deren Ruf viel zu schlecht war. Aber dort, wo sich sogar der Pfarrer gelegentlich nach dem Gottesdienst blicken ließ, konnte nichts geschehen, was für Kinderaugen nicht geeignet war.
Marinus hatte sich an einem der Holztische niedergelassen und sich ein Bier bestellt, das ihm von einer jungen Frau gebracht wurde, die ihn neugierig ansah. »Arbeitest du für die Inselbahn?«
Marinus schüttelte den Kopf, weil er nicht über den Diebstahlder Lohngelder reden wollte, nicht über Geesche, die immer noch im Verdacht stand, und erst recht nicht über ihren Ausbruch aus dem Gefängnis. Außerdem hatte er der Serviererin die Wahrheit gesagt, befand er zufrieden, denn tatsächlich war es mit seiner Arbeit für die Inselbahn ja vorbei.
Wie lange er am Meer gesessen und nachgedacht hatte, konnte er nicht mehr sagen. Vom Sonnenuntergang war er schließlich aufgerüttelt worden und von dem kühlen Wind, der sich gleich darauf erhoben hatte. Ins Haus seines Bruders hatte er jedoch nicht zurückkehren wollen, und so war er am Strand entlang gelaufen, durch die Dünen, mal Richtung Wenningstedt, dann wieder Richtung Heide, so weit, dass er das Watt schon sehen konnte. Aber Geesche hatte er nirgendwo entdeckt. Immer wieder hatte er sich auf einen Dünenkamm gestellt, sich dargeboten, damit Geesche ihn, falls sie sich irgendwo versteckte, sehen konnte – aber alles war vergeblich gewesen. Marinus wusste nicht mehr weiter. Geesche war verschwunden, seinen Bruder hatte er ebenfalls, wenn auch auf andere Weise, verloren, und er selbst war zu einem Mann geworden, der für den Tod eines anderen verantwortlich war. Sein Leben war in einem Moment, den er nicht kennzeichnen konnte, ins Rutschen geraten, und er war nun auf dem besten Wege, in die Hölle zu fahren.
Um ihn herum waren alle Tische besetzt. Er war froh, dass niemand auf die Idee gekommen war, sich zu ihm zu setzen. Anscheinend war seine Miene abweisend genug, um klarzustellen, dass mit ihm kein unterhaltsames Gespräch zu führen war. Marinus war froh darüber und nahm sich vor, die Verdrießlichkeit nicht aus seinem Gesicht zu wischen, selbst dann nicht, wenn das Bier ihn allmählich duldsamer und phlegmatischer machen sollte.
Vorsichtig sah er sich um, darauf bedacht, keinen Blick zu erwidern, damit niemand auf die Idee kam, dass er doch auf Gesellschaft aus war. Er fühlte sich nicht wohl hier, obwohl dieSchenke angenehm sauber und einigermaßen behaglich eingerichtet war. Aber wo sollte er hin? In das Haus seines Bruders würde er erst zurückkehren, wenn es so spät geworden war, dass dort niemand mehr wach war. Am liebsten würde er nie wieder einen Schritt über die Schwelle setzen! Er nahm sich vor, so bald wie möglich nach einer anderen Unterkunft Ausschau zu halten. Arndt hatte ihm so viel Geld gegeben, wie er von ihm verlangt hatte, um Geesche retten und auf das Festland bringen zu können. Nun würde er dieses Geld dafür nutzen, um sich woanders einzumieten. Am liebsten wäre er natürlich nach Munkmarsch gefahren, um dort einen Dampfer zu nehmen, aber solange er nicht wusste, welches Schicksal Geesche ereilt hatte, kam das nicht in Frage. Wenn sie vor Hauke geflohen war, würde sie alles daransetzen, sich mit ihm in Verbindung zu setzen! Und wenn er nichts von ihr hörte, dann musste er sich wohl damit abfinden, dass Hauke Bendix den Auftrag seines Bruders ausgeführt hatte. Er hatte Geesche getötet, damit Arndts Schuld nicht ans Tageslicht kam, und sie irgendwo verscharrt, wo sie niemals gefunden werden konnte. Sein Bruder! Der Mensch, der ihm nach Geesche der wichtigste war …
Die Tür öffnete sich, ein Schwall kühler Luft kam mit dem späten Gast herein, der kurz auf der Schwelle stehen blieb und sich umsah, ehe er eintrat und die Tür hinter sich schloss. Marinus hatte nicht auf sein Erscheinen reagiert und sah nun unwillig auf, als er sich an seinen Tisch setzte. Er wollte allein bleiben!
Aber dann sackte seine Kinnlade herab, und als er etwas sagen wollte, merkte er, wie betrunken er
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