Hebamme von Sylt
den Dünen getrieben, wohin ihnen die Kutsche nicht folgen konnte. Erst in sicherer Entfernung waren sie stehen geblieben und hatten zurückgeblickt. Ebbo würde nie Elisas furchtsame Augen vergessen, die aus dem schwarzen Umhang herausstachen, den sie fest um sich gewickelt hatte.
»Das ist unsere Kutsche!«
Und dann, als der Wagen sich gemächlich wieder in Bewegung setzte, hatten sie die schreckliche Entdeckung gemacht: Graf Arndt saß auf dem Bock. Er hatte sie gesehen. Er hatte beobachtet, wie sie vor ihm geflohen waren. Und er kannte Elisa so gut wie kein anderer. Er kannte ihre Bewegungen, ihreHaare, ihre Größe, ihre Gestalt. Elisa war sicher gewesen, dass er durchschaut hatte, wer unter dem schwarzen Umhang steckte.
Aber es war keine Zeit gewesen für Beratungen. Nun erst recht nicht! Elisa musste so schnell wie möglich ins Haus, musste wieder durch das Fenster steigen, aus dem sie entkommen war, musste sich in Windeseile ausziehen und ins Bett legen, falls ihr Vater sich vergewissern wollte, ob seine Tochter tatsächlich die Nacht mit dem Bruder ihrer Gesellschafterin verbracht hatte.
Mit der rechten Hand stützte sich Ebbo an die Hauswand und versuchte, ruhig zu atmen. Alles war zunichte gemacht worden! Alles! Der seelenvolle Abschied, der sie ein Leben lang für den Verlust ihrer Liebe entschädigen sollte. Dieses letzte Mal, mit dem sie ein Zeichen für die Zukunft setzen wollten. Der majestätische Verzicht … das alles war nun schmuddelig und banal geworden. Und was würde mit Elisa geschehen? Wie würde der Graf reagieren, wenn er seine Tochter tatsächlich erkannt hatte? Ebbo wagte es sich nicht vorzustellen. Dagegen spielte ein Mann, der in Dr. Nissens Fenster gestiegen war, keine Rolle.
Als er sich wieder in der Gewalt hatte, merkte er, dass er nicht mehr allein war. Hanna war neben ihn getreten.
Erschrocken sah er sie an. »Was machst du hier? Warum bist du nicht im Haus? Mutter wird schon auf dich warten.«
Sie gab ihm einen Wink, damit er ihr folgte. So weit entfernte sie sich von ihrem Zuhause, bis sie sicher sein konnte, dass Freda von ihrem Gespräch nichts mitbekam.
Ebbo war während der wenigen Augenblicke immer unruhiger geworden. »Geht es um den Mann, den du beobachtet hast?«
Hanna nickte, dann sagte sie mit würdevollem Ernst: »Ich habe den Mörder von Dr. Nissen gesehen.«
Dr. Pollacsek war der Erste, der stehen blieb, nachdem sie in den Weg eingebogen waren, der zum Haus der Hebamme führte und still und dunkel vor ihnen lag. Heye Buuß und Marinus gingen nun langsamer und drehten sich schließlich zum Kurdirektor um, der sich daraufhin wieder in Bewegung setzte. Wie ungern er sich dem Ort näherte, an dem er die schrecklichste Entdeckung seines Lebens gemacht hatte, war unschwer zu erkennen.
»Mir hat er gesagt, er wäre mit einem Freund verabredet«, begann er schon wieder zu klagen. »Er wollte das Konzert im Conversationshaus besuchen und anschließend im ›Dünenhof‹ zu Abend essen. Sonst hätte ich niemals gewagt, in sein Zimmer einzusteigen.«
»Haben Sie sich nicht gewundert, dass das Fenster offen stand?«, fragte Heye Buuß.
»Natürlich! Ich fand es leichtsinnig von Dr. Nissen. Wo doch jeder weiß, dass die Inselbahnarbeiter nur auf eine Gelegenheit warten, sich an Geesche Jensen zu rächen.«
Marinus war es wichtig, sich ein letztes Mal zu vergewissern. »Sie sind wirklich der Meinung, dass Dr. Nissen der Dieb der Lohngelder ist?«
Alle anderen Fragen, die ihm den Kopf schwer machten, ließ er nicht an sich heran. Auch nicht den Gedanken an seinen Bruder, der erschrocken abgewinkt hatte, als der Inselvogt ihn aufforderte, sie zum Tatort zu begleiten.
Pollacsek hob hilflos die Schultern und ließ sie wieder fallen. Wieder blieb er stehen und sah Heye Buuß zu, der nun an das Fenster von Dr. Nissens Zimmer trat und hineinblickte. Er schien froh zu sein, dass Marinus keine Anstalten machte, dem Inselvogt zu folgen. »Die Kaffeebohnen! Eine davon lag vor dem Tresor! Und am Strand habe ich gesehen, dass er Kaffeebohnen kaute. Gegen Mundgeruch, hat er mir erklärt.«
Marinus spürte die Anspannung wie eine senkrechte Linie, die durch seinen ganzen Körper fuhr. Aufrecht stand er da. Erfühlte sich nüchtern, in seinem Kopf herrschte absolute Klarheit. Kurz vorher noch war er froh gewesen, dass niemand die Wunde an Arndts Hand bemerkt hatte, nun, als er kerzengerade dastand und seine Gedanken seiner Körperhaltung folgten, bedauerte er es. Diesmal
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