Hebamme von Sylt
eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Einen Schrei!
Im Fenster des Fremdenzimmers entstand Bewegung. Dr. Pollacsek war zu sehen, der sich bemühte, das Haus so schnell wie möglich wieder auf dem Weg zu verlassen, auf dem er dort eingedrungen war. Anscheinend gab es auf der anderen Seite nichts, was ihm das Erklimmen der Fensterbank erleichterte. Er warf sich einfach bäuchlings darüber, versuchte ein Bein auf die andere Seite zu heben, geriet ins Straucheln und landete unsanft und mit großem Gepolter auf dem Blumentopf, den er vorher unters Fenster gestellt hatte. Aber der Lärm, den er verursachte, schien ihn nicht zu kümmern. Mit erstaunlicher Behändigkeit richtete er sich auf und stöhnte so laut, dass Geesche es trotz der Entfernung hören konnte. Dann setzte er sich in Bewegung, und sie duckte sich wieder so tief wie möglich ins Gras. Dr. Pollacsek begann zu laufen, das konnte sie hören. Er lief immer schneller, auch das war zu hören. Und als sie es wagte, den Kopf zu heben, sah sie, dass er schon an der Stelle vorbeigelaufen war, an der sie sich verbarg. Sie richtete sich auf und sah ihm nach. Trotz der Dunkelheit und obwohl sie ihn nur von hinten sehen konnte, glaubte sie, dass Dr. Pollacsek etwas Schreckliches erlebt hatte.
Als er weit genug entfernt war, hob sie sich auf die Knie. Hatte der Schrei jemanden angelockt? War einer der Nachbarn auf den fliehenden Kurdirektor aufmerksam geworden?
Aber in den Häusern, die von hier aus zu sehen waren, regte sich nichts. Doch gerade als Geesche sich sicherer fühlte und zu der Ansicht gekommen war, dass sie es wagen konnte, ins Haus zu gehen, sah sie etwas, was alles Schreckliche noch schrecklicher machte. Eine Gestalt bewegte sich an der östlichen Hausecke und ging dann, vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzend, an der Hausfront entlang. Ganz leise,aber unverkennbar hörte Geesche das vertraute Tohk-tik. Es schwieg erst, als Hanna vor dem Fenster des Fremdenzimmers angekommen war. Geesche sah, wie sie sich in das Zimmer beugte. So weit, dass ihre Füße sich vom Boden lösten, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor und nur mühsam und zappelnd die Füße wieder zu Boden brachte. Hanna presste die Fäuste vor den Mund, und als sie sich umdrehte, hörte Geesche sie würgen. Tohk-tik, tohk-tik! Immer schneller wurde der Rhythmus. Hanna Boyken floh. Tohk-tik! Warum und vor wem?
Wieder presste Geesche ihr Gesicht ins Gras und versuchte, das Geräusch zu ignorieren. Tohk-tik! Als es endlich verklungen war, kam es ihr so vor, als habe sie minutenlang die Luft angehalten.
Plötzlich war ihre Angst, entdeckt, verhaftet oder gar gelyncht zu werden, wie weggeblasen. Was ging in ihrem Haus vor? Was hatte Hanna hier zu suchen? Geesche musste es wissen! Koste es, was es wolle!
Sie ging auf das Fenster des Fremdenzimmers zu, als würde sie von einer unsichtbaren Schnur dorthin gezogen. Die Fensterflügel standen offen, trotzdem öffnete Geesche sie noch weiter. So weit wie möglich. Sie schaute hinein, konnte aber nichts erkennen außer einer verschwommenen Dunkelheit und den umrisshaften Gegenständen, die sie kannte. Ein Schrank, ein Tisch mit einem Stuhl, ein Bett. Auf dem Bett lag jemand. Leonard war also doch zu Hause! Warum war Dr. Pollacsek dennoch so unbesorgt gewesen?
Bewegungslos blieb Geesche stehen. Ein merkwürdiger Geruch stieg ihr in die Nase. Es roch nach Endgültigkeit, nach dem Ende, nach … Tod. Der Gedanke überwältigte sie wie ein unfairer Angriff. Tod? Sie konnte sich nicht dagegen wehren, duckte sich nicht, floh nicht. Tod! Ohne sich um Geräuschlosigkeit zu bemühen, zog sie den Blumentopf heran, den Dr. Pollacsek umgestoßen hatte. Dann starrte sie wieder insZimmer und wartete, dass Leonard aufwachte und sich bewegte. Aber nichts geschah.
Nun stieg sie ins Zimmer, so wie Dr. Pollacsek es getan hatte. Und als sie an das Bett trat, überfiel sie die gleiche Angst, unter der der Kurdirektor geflohen war. Leonard Nissen war tot. In seinem Leib steckte ein Messer, aus der schrecklichen Wunde tropfte Blut. Es sickerte über das Laken und die Bettkante. Und nun hörte Geesche auch das rhythmische Tropfen. Leonard Nissen war noch nicht lange tot.
XXIII.
Die Schenke, in die Marinus eingekehrt war, hieß »Zum Alten Jennes« und lag in der Nähe der Kirche St. Niels. Diese Nachbarschaft hatte ihr den Ruf des Anrüchigen erspart, der vielen anderen Gastwirtschaften anhaftete, in denen Familienväter genötigt wurden, das Geld für
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