Hebamme von Sylt
sie kein verdächtiges Geräusch vernahm, obwohl von den Bewegungen, die sie geängstigt hatten, nichts mehr zu sehen war, erlaubte sie sich nicht, über den Weg auf ihr Haus zuzugehen. Sie blieb auf dem großen Weidenstück, wo ihre Schritte nicht zu hören waren und sie sich ins Gras legen konnte, damit sie nicht gesehen wurde.
Tatsächlich warf sie sich blindlings vornüber, als sie das Geräusch hörte. Sie wusste nicht, was an ihre Ohren drang,konnte nicht erkennen, ob es eine Gefahr darstellte, wusste nur, dass alles, was in dieser Nacht fremd war, für sie gefährlich sein konnte.
Bebend lag sie da und versuchte, ruhig zu atmen. Den Kopf zu heben wagte sie nicht. Sie blieb so liegen, das Gesicht ins Gras gedrückt, alle Sinne auf ihr Gehör konzentriert. Es rauschte in ihren Ohren, trotzdem traute sie sich zu, die vertrauten Töne der Nacht von anderen zu unterscheiden. Dazu war das kurze, komprimierte Stöhnen zu angsterregend gewesen, das Scharren zu durchgreifend, das leise Klirren zu drohend. Dann das Kratzen auf rauem Putz, der dumpfe Fall, der von einem Sprung herrühren musste. Vorsichtig hob sie den Kopf, starrte in die Dunkelheit, aus der sich langsam wieder die hellen Wände ihres Hauses lösten. Jemand war gesprungen! Aus einem Fenster? Irgendetwas geschah in ihrem Haus, was sie sich nicht erklären konnte.
Langsam hob sie sich auf die Knie. Ihr war, als kämen Schritte auf sie zu, als gäbe es wieder das rhythmische Rauschen in den Halmen und das Saugen von Fußsohlen auf dem Boden. Und dann glaubte sie sogar, eine Bewegung zu erkennen, etwas Schwarzes, Vibrierendes, Huschendes, was sich in einem Wirbel um sich selbst drehte und anschließend verschwand.
Dann … Stille. Vorsichtig richtete sie sich auf, warf sich aber gleich darauf wieder zu Boden. Schritte, die zunächst nur eine Vermutung waren, näherten sich so zügig, dass sie bald sicher sein konnte. Jemand kam auf das Haus zu. Jemand, der erst wenige Meter vorher stehen blieb und plötzlich darauf bedacht war, sich leise zu verhalten.
Geesche hob den Kopf. Auf dem Weg stand ein Mann. Sie erkannte schwarze Hosenbeine und glänzende schwarze Schuhe. Er schien sich umzublicken, als wollte er sichergehen, dass er allein war. Dann ging er auf das Haus zu, als wüsste er, dass sich dort niemand aufhielt. Er machte keine Anstalten, sich leise zuverhalten, und er schien genau zu wissen, was er wollte. Geesche stützte den Oberkörper auf und strengte ihre Augen an. Sie sah, dass der Mann an der Eingangstür vorbeiging, ohne zu überprüfen, ob sie verschlossen war. Ein paar Meter weiter blieb er stehen. Direkt vor Leonard Nissens Fenster. Nachdenklich betrachtete er es, dann versuchte er, einen Fensterflügel zu öffnen. Und als er sich zur Seite drehte und sein Profil sich vor der hellen Hauswand abhob, wusste Geesche mit einem Schlage, wen sie vor sich hatte. Dr. Pollacsek! Was fiel dem Kurdirektor ein, in ihr Haus einzusteigen?
Anscheinend hatte Leonard sein Fenster nicht verschlossen. Dr. Pollacsek hatte keine Mühe, es zu öffnen. Das Knarren der Scharniere schien ihn nicht zu kümmern. Wenn er sich nicht darum sorgte, dass Leonard geweckt wurde, dann glaubte er anscheinend, dass er nicht daheim war. Was wollte der Kurdirektor in ihrem Haus?
Geesches Empörung war so groß, dass sie darüber beinahe ihre Vorsicht vergessen hätte. Es war schrecklich, mit ansehen zu müssen, wie sich jemand das Recht nahm, in ihr Haus einzudringen. Nur, weil sie als Betrügerin, Diebin und sogar Mörderin galt? Das gab Dr. Pollacsek nicht das Recht, den Frieden ihres Hauses zu brechen!
Sie biss sich auf die Lippen, um nicht aufzustöhnen, als sie sah, dass Dr. Pollacsek, der kein sportlicher Mann war, sich einen Blumentopf heranholte, ihn umkippte und daraufkletterte, um anschließend mühelos in Leonards Zimmer steigen zu können. Geesche wäre gern näher herangeschlichen, rührte sich jedoch nicht. Was würde jetzt geschehen? Wollte der Kurdirektor durch ihr Haus gehen und sich nehmen, was ihm gefiel? Er war gut bekannt mit Leonard Nissen. Vermutlich wusste der Kurdirektor, dass er nicht zu Hause war, und hatte damit gerechnet, dass er sein Fenster nicht fest verschlossen hatte, obwohl er nicht im Hause war. Merkwürdig … so unachtsam verhielt sich Leonard sonst nie.
Geesche wartete darauf, dass es irgendwo im Hause hell wurde, dass Dr. Pollacsek eine Kerze anzündete, um sich ihre Besitztümer genauer anzusehen … da hörte sie etwas, was ihr
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