Hebamme von Sylt
schnell herumgesprochen.«
Geesche hörte das alles zum ersten Mal. Einen kurzen, aber überwältigenden Augenblick sah sie sich zwei Männern gegenüber, die in einer Welt lebten, zu der sie keinen Zutritt hatte. Der reiche Arzt, der in der gehobenen Gesellschaft Hamburgs zu Hause war, und der Sohn eines Grafen, dessen Welt ebenfalls eine andere war, obwohl er auch das Kind eines Dienstmädchens war.
»Eine Königin kommt nach Sylt?«, fragte sie ungläubig.
Dr. Nissen schien sich an seinem Wissensvorsprung zu erfreuen. »Wahrscheinlich morgen schon. Natürlich laufen in der Villa Roth die Vorbereitungen auf Hochtouren. Die Dienerschaft der Königin ist bereits angereist. Auch ihr Koch, denn Ihre Majestät hat sehr spezielle Wünsche, wenn es um ihre Beköstigung geht. Sonst ist sie ja eine bescheidene Person«, ergänzte er schnell, als wollte er betonen, wie gut er informiert war, »aber sie hat einen empfindlichen Magen.« Zufrieden lehnte er sich zurück und drehte den Stock, den er auf seinem Schoß hielt, so schnell, dass der silberne Knauf in einem feurigen Rhythmus in der Sonne blitzte. »Ich kenne den Koch. Er fuhr mal als Smutje zur See und ging in Hamburg an Land. Mit einer schlimmen Blinddarmentzündung wurde er von Bord getragen und in meine Klinik gebracht. Wollte sagen … in die Klinik meines damaligen Schwiegervaters. Ich konnte ihm im letzten Augenblick durch eine Operation das Leben retten. Nachseiner Genesung hat er in Lübeck in der Marzipanherstellung gearbeitet, dann ist er beim Fürsten zu Wied in Stellung gegangen, dem Vater Ihrer Majestät, und später mit Königin Elisabeth nach Bukarest.« Dr. Nissen sah interessiert zu, wie Geesche den Samowar bediente und den Sud aus grünen Teeblättern, von dem sie etwas in seine Tasse gegeben hatte, auffüllte. »Als ich ihm erzählt habe, dass ich ein außergewöhnliches Geschenk für eine außergewöhnliche Frau brauche, war er gern bereit, mir etwas von seinen Marzipanvorräten zu überlassen.«
»Danke«, sagte Geesche leise und betrachtete die Marzipanrosen, weil sie weder Marinus noch Dr. Nissen anblicken wollte. Dann ging ihr auf, das Marinus den Eindruck bekommen mochte, das Geschenk habe Dr. Nissen tatsächlich einen Vorsprung verschafft, und sie schob es mit einer hastigen Bewegung zur Seite und lächelte Marinus an, damit er wusste, dass ihr Herz mit keinem noch so kostbaren Geschenk zu erobern war.
Aber Marinus widmete ihr in diesem Augenblick keine Aufmerksamkeit. Ihm war plötzlich daran gelegen, mit Dr. Nissen Konversation zu treiben. »Werden Sie in der Klinik Ihres Schwiegervaters …«
»… früheren Schwiegervaters«, unterbrach Dr. Nissen.
»Werden Sie dort nicht gebraucht? Oder wollen Sie nur für einen kurzen Urlaub auf Sylt bleiben?«
Dr. Nissen lachte. »Wer macht das schon? Die Anreise ist derart beschwerlich, dass man zwei Wochen braucht, um sich davon zu erholen. Die Inselbahn macht das Vorankommen auf der Insel zwar leichter, aber bis man auf Sylt angekommen ist …« Er schüttelte seufzend den Kopf. »Nein, das lohnt sich nur für ein oder zwei Monate. Außerdem weiß ich als Arzt natürlich, dass die Heilkräfte des Meeres und der Luft erst nach vier Wochen zu wirken beginnen. Von einem kürzeren Aufenthalt ist also, jedenfalls aus medizinischer Sicht, abzuraten. Die Erholung setzt erst später ein.«
»Und Sie brauchen Erholung?«, fragte Marinus.
Dr. Nissen nickte, dann nippte er an seinem Tee, als hoffte er, dass ihm eine Antwort erspart blieb. Aber da Marinus’ Frage noch im Raum stand, als er die Tasse absetzte, ergänzte er: »Die Scheidung hat mich eine Menge Kraft gekostet. Und die Enttäuschung! Meine Frau hat mich betrogen. Sogar mein Schwiegervater hatte Verständnis dafür, dass ich unter diesen Umständen die Ehe nicht fortführen wollte.«
Marinus sah ihn mitfühlend an, aber Geesche spürte deutlich, dass diese Konversation nur dazu dienen sollte, einen Fleck auf der weißen Weste des Arztes zu finden und ihn Geesche zu zeigen. Sie wünschte, Marinus würde aufhören, Dr. Nissen mit inquisitorischen Fragen zu bedrängen.
»Er hat mich geradezu genötigt«, fuhr Dr. Nissen fort, »mich gründlich auf Sylt zu erholen.«
Marinus nicke verständnisvoll. »Aber Sie wollen trotzdem weiter in der Klinik Ihres Schwiegervaters … Ihres früheren Schwiegervaters tätig sein?«
Dr. Nissen verzog unschlüssig das Gesicht. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Manchmal denke ich, es wäre vernünftig,
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