Hebamme von Sylt
Arbeit besonders wichtig war. Er dachte an die Lohngelder, die in wenigen Tagen ausgezahlt werden mussten, und die technischen Zeichnungen, die in den falschen Händen ein Vermögen wert waren. Was hatte derjenige vor, der seit Tagen um sein Haus herumschlich?
Leider ließ sich die Wohnzimmertür nicht geräuschlos öffnen, das Knarzen der Scharniere kam ihm so durchdringend vor, als müsste es in der ganzen Strandstraße zu hören sein. Mehrere Fenster waren geöffnet, die Geräusche aus dem Inneren des Hauses würde man draußen vernehmen können, jedenfalls dann, wenn jemand darauf lauschte.
Als Dr. Pollacsek am Fenster seines Wohnzimmers stand und in den Garten blickte, war alles still und ruhig. Keine Bewegung, kein Schatten, nichts. Auch die Stille war wieder ungebrochen.
Er stand reglos da und starrte hinaus. So lange, bis der Druck in seinem Magen unerträglich wurde und er sich krümmen musste, um ihn auszuhalten. Als er wieder aufsah, hatte sich etwas verändert. Der Mond wurde nicht mehr von dem Zweig eines dicht belaubten Busches zerschnitten. Er hatte sich irgendwo verfangen, Dr. Pollacsek konnte nicht ausmachen, wo. Und er brachte nicht den Mut auf, das Haus zu verlassen, in den Garten zu gehen und nachzusehen.
Dr. Julius Pollacsek, der Mann, der schon so viel gewagt hatte, bekam es mit der Angst zu tun.
Die Kate der Boykens lag in der Nähe der Trift, einem Weg, den kein Sommerfrischler nahm, wo es nur ein paar ärmliche Hütten gab. Fischer und ihre Familien wohnten dort, ein paar Witwen, die sich mit Halmreepen über Wasser hielten und ihre Kinder jeden Morgen zum Meer schickten, damit sie nach Strandgut Ausschau hielten, das sich verkaufen ließ. Der ehrbare und früher auch einträgliche Beruf der Strandgutsammler konnte jedoch nicht mehr viel zum Leben beitragen, seit die Obrigkeit ihren Anteil verlangte und die Strandräuber, die in den Dünen hausten, den Sammlern abjagten, was kostbar war. Sie standen sogar in dem Ruf, für manches Schiffsunglück verantwortlich zu sein, indem sie die Kapitäne durch falsche Leuchtfeuer verwirrten, damit sie geradewegs in ihr Unglück fuhren.
Ebbo hatte schon oft daran gedacht, sich ihnen anzuschließen, um endlich mehr zum Leben zu haben als den kargen Lohn des Fischers, der kein eigenes Boot besaß und darauf angewiesen war, dass ein anderer, der Hilfe brauchte, einen Mann mit hinaus nahm. Aber Freda und Hanna verlassen? Nein, das konnte er ihnen nicht antun. Er mochte sich nicht vorstellen, was aus Hanna würde ohne ihren großen Bruder, der ein Auge auf sie hatte. Und seiner Mutter würde es das Herz brechen. So nannte er Freda, die er liebte wie eine Mutter und von der er geliebt wurde wie ein Sohn. Nein, ihr Leben war schwer genug mit der frühen Witwenschaft und der verkrüppelten Tochter. Mehr Kummer durfte er ihr nicht machen.
Ebbo entfernte sich ein paar Schritte, damit Freda ihn, falls sie aus dem Fenster sah, nicht entdeckte und feststellte, dass er wartete. Er wollte ihr keine Sorgen machen. Schlimm genug, dass sie mitbekommen hatte, wie es um seine Gefühle stand. Dabei waren ihre Ängste überflüssig. Er wusste, dass eine Comtesse nicht die richtige Frau für ihn war. Freda musste nur akzeptieren, dass er noch einen letzten Sommer der Liebe genießen wollte, bis Elisa einem passenden Mann zur Frau gegeben wurde. Nur noch dieser eine Sommer! Sie würden daraufachten, dass niemand dahinterkam, was die Comtesse Elisa von Zederlitz mit dem armen Fischerjungen Ebbo verband. Und da Hanna ihnen half, konnte nichts schiefgehen.
Aber wenn Freda das wüsste, würde womöglich alles noch schlimmer werden. Nein, sie sollte nicht erfahren, dass Hanna etwas tat, was sie die Stelle beim Grafen kosten konnte. Freda wäre verzweifelt! Dabei hätte Ebbo seiner Mutter eigentlich gern gesagt, dass Hanna hilfsbereiter war, als sie glaubte. Freda jammerte häufig darüber, dass Hanna niemandem gerne half, wenn sie nicht dafür entlohnt wurde. Nur Geesche Jensen ging sie zur Hand, sogar dann, wenn sie nicht ausdrücklich darum gebeten wurde. Das Haus der Hebamme schien sie anzuziehen, nicht nur weil Freda ihr immer wieder einbläute, dass sie Geesche zur Dankbarkeit verpflichtet waren, denn sie gab ihnen einen kleinen Broterwerb. Aber Ebbo wusste, dass Dankbarkeit nicht Hannas Sache war. Dass sie häufig zu Geesche ging, musste einen anderen Grund haben. Vielleicht lag es daran, dass die Hebamme immer versuchte, Hanna gerecht zu werden! Ebbo glaubte nicht
Weitere Kostenlose Bücher