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Hebamme von Sylt

Hebamme von Sylt

Titel: Hebamme von Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Pauly
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ernähren,sondern vor allem, um seine Ideen umzusetzen und seine Träume wahrzumachen.
    Sein Lebenslauf war entsprechend bunt. Nachdem er den Doktorhut aufgesetzt bekommen hatte, arbeitete er als Lehrer und war Direktor einer Handelsschule in Budapest. Später zog er von Ungarn nach Schleswig, gründete dort ein Bank- und Kommissionsgeschäft, arbeitete außerdem als Redakteur und schrieb während dieser Zeit mehrere Fachbücher. In Hamburg war er später Inhaber einer literarischen Agentur und schrieb für die »Hamburger Nachrichten«. Dort bekam er auch seine deutsche Staatsbürgerschaft und unterhielt intensive freundschaftliche Beziehungen zu dem Dichter Theodor Storm.
    Dann aber gab es eine neue Mission, eine neue Idee! Dr. Pollacsek war zu Geld gekommen, kaufte das Bad Westerland mit allen dazugehörigen Gebäuden und wurde Kurdirektor. Das Warmbadehaus war sein erstes Werk, sein nächstes, wichtigstes, die Inselbahn.
    Er saß vor einem Zeichenbrett, hatte aber seit mindestens einer halben Stunde keinen Strich mehr gemacht. Als der Druck in seiner Magengegend zunahm, wurde ihm klar, dass er nur hier saß, um sich von seinen Magenbeschwerden abzulenken. Er stand auf und dehnte seinen Oberkörper, als könnte er den Punkt in der Körpermitte, der ihn quälte, ebenfalls dehnen, so weit, bis er zerriss und sich auflöste.
    Er machte ein paar Schritte hin und her, dann hatte er tatsächlich das Gefühl, dass ihm die aufrechte Haltung Linderung verschaffte. Als er ein Pferdefuhrwerk vorbeirumpeln hörte, ging er zum Fenster und blickte ihm nach. Der Kutscher rief etwas, eine keifende Mädchenstimme antwortete. Pollacsek reckte den Hals und sah der Stimme entgegen, die den Ruf des Kutschers zurückgeworfen hatte. Noch ehe er die junge Frau sehen konnte, die es anscheinend mit der Respektlosigkeit eines groben Burschen aufnehmen konnte, erkannte er sie schon an ihren Schritten. Die Straße wurde tagsüber von vielen Fuhrwerkenbenutzt, und da es lange nicht geregnet hatte, war sie fest und hart geworden. Das Geräusch der Schritte prallte gegen die Hauswände wie von einer gepflasterten Straße. Tohktik, tohk-tik. Das musste das Mädchen mit der missgebildeten Hüfte und dem verkrüppelten Bein sein!
    Fasziniert sah Dr. Pollacsek ihr nach. Schon oft hatte er sie beobachtet und heimlich bewundert für die Stärke, mit der sie während jedes Schrittes ihre Behinderung überwand. Schritt für Schritt! Immer wieder aufs Neue. Und sie hatte noch viel mehr zu überwinden. Dieses Mädchen musste nicht nur gegen seinen Körper kämpfen, sondern auch gegen die Verachtung junger Männer, gegen den Hochmut gleichaltriger Mädchen und gegen das Misstrauen der Älteren, das sich wohl weniger gegen ihren missgestalteten Körper, sondern gegen ihren durchdringenden Blick richtete und gegen das Dreiste, Fordernde, das sie sich herausnahm, weil ihr nichts freiwillig gegeben und wenig nachgesehen wurde. Dr. Pollacsek war stets gebannt von solchen Menschen und von den Wegen, die sie einschlugen, um mit ihrem Schicksal fertigzuwerden.
    Er drehte dem Fenster den Rücken zu und stellte fest, dass sich der Druck in seinem Magen wieder verstärkte. Das beschäftigte ihn so lange, bis er merkte, dass das Tohk-tik der Schritte nicht mehr zu hören war. Plötzlich verstummt oder allmählich verklungen? Er wusste es nicht. Stille war wieder eingetreten, die Stille, zu der der Wind gehörte. Wäre er nicht ein Teil von ihr, würde es auf Sylt niemals still sein.
    Dr. Pollacsek wollte zum Zeichentisch zurückgehen, blieb aber plötzlich wie angewurzelt stehen. Da war etwas, was nicht zur Stille gehörte! Durch das leicht geöffnete Fenster drang ein Scharren, wie es auf dem Kies vor dem Haus entstand, ein Schaben an der Hausecke, als glitte rauer Stoff übers Holz, ein metallischer Klang am Regenrohr. Und dann ein Schatten! Gerade in diesem Moment brach das Mondlicht durch die Wolken, und Dr. Pollacsek machte eine Bewegung aus, die zu großfür ein Tier war und zu breit für einen schlagenden Ast. Jemand drang in seinen Garten ein. Und er tat es nicht zum ersten Mal!
    Diesmal ignorierte Dr. Pollacsek den Schmerz in seinem Magen, der ihn an den vergangenen Abenden gelähmt hatte. Diesmal überwand er die körperliche Schwäche und schlich der Gefahr hinterher. Über den Flur mit den knarrenden Holzdielen in den Raum, den er sein Wohnzimmer nannte, obwohl es dort einen Schreibtisch gab und er gerade in diesem Raum alles aufbewahrte, was für seine

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