Hebamme von Sylt
einen Neuanfang zu wagen. Alles hinter mir lassen, noch einmal ganz von vorn anfangen.« Er sah Geesche lächelnd an und ließ den Blick nicht von ihrem Gesicht, als er ergänzte: »Auf Sylt gibt es keinen Arzt. Wenn der Fremdenverkehr zunimmt, wird bald einer vonnöten sein. Mal sehen, vielleicht lasse ich mich hier nieder. Es erscheint mir reizvoll, auf Sylt ein neues Leben zu beginnen. Beruflich und privat.« Er ließ seine Worte wirken, dann erhob er sich. »Sie entschuldigen mich?«
Seinen übertriebenen Dank für die Tasse Tee, seine ebenso übertriebene Anerkennung für den außergewöhnlichen Samowar, der ihm zeige, dass Geesche einen bemerkenswerten Sinn für das Schöne habe, und die Bitte um Vergebung, weil er ihr Gespräch mit ihrem Gast gestört habe, erwiderte Geesche, indem sie sich ein weiteres Mal für das Marzipan bedankte, seineAnerkennung zurückwies und behauptete, von einer Störung könne keine Rede sein. Als die Tür von Dr. Nissens Zimmer ins Schloss fiel, fühlte sie sich regelrecht erschöpft. »Was ist das anstrengend, diese extravagante Höflichkeit!«
Marinus wirkte grimmig. »Dr. Nissen weiß, wie man Frauen beeindruckt. Ein akademischer Titel, ein einträchtiger Beruf, komfortable Lebensumstände und vorsichtshalber noch ein kostbares Geschenk!«
In Geesche stieg Unmut hoch. »Du hast ihn herausgefordert! Erst befragst du ihn und willst alles von ihm wissen, und nun wirfst du ihm vor, dass er dir von seinen komfortablen Lebensumständen erzählt? Außerdem … der Luxus ist ihm anscheinend gar nicht so wichtig. Jedenfalls nicht, wenn er demnächst auf Sylt praktizieren will. Er weiß, wie einfach das Leben hier ist.«
Marinus sah auf seine Hände. Als er wieder aufblickte, war seine Miene schuldbewusst. »Verzeih mir, Geesche. Ich war dumm und … eifersüchtig.« Er versuchte ein Lächeln, das aber gründlich misslang. »Dabei weiß ich doch, dass du jeden Mann zurückweist, der über deinem Stand ist. Wenn du schon den Bankert eines Dienstmädchens nicht willst, nur weil der Vater ein Graf ist …«
Er brach ab und schien zu warten, dass Geesche seinen Satz vervollständigte. Aber sie saß nur hilflos da und wusste nicht, wie sie Marinus einerseits seine Sicherheit zurückgeben konnte, ohne ihn andererseits in einer Sicherheit zu wiegen, die sie nicht verantworten konnte. Wie sollte sie ihm Sicherheit geben, wenn sie selbst viel zu unsicher war?
Das Schweigen zwischen ihnen war nur kurz, aber es dauerte zu lange. Marinus erhob sich und machte einen letzten verzweifelten Versuch, den Zauber wieder einzufangen, der sich um sie gelegt hatte, als er Geesches Haus betrat.
Er zog sie in seine Arme, und sie ließ es geschehen. Er küsste sie, und sie erwiderte seinen Kuss. Seine Hände vergewissertensich, und sie ließ sie gewähren. Trotzdem kam der Zauber nicht zurück, den Dr. Leonard Nissen zerstört hatte.
III.
Das Haus von Dr. Julius Pollacsek befand sich in der Strandstraße, nicht weit vom Strandübergang entfernt. Ein großes Haus mit zwei Stockwerken, weiß verputzt und im Giebel mit schwarzem Fachwerk geschmückt. Die Bögen der Fenster waren mit dunklen Steinen verziert, hölzerne Balkongeländer wurden durch dicke Pfosten mit der Erde und dem Dach verbunden. Darauf reckten sich mehrere Türmchen in die Höhe, die den darunter liegenden schrägen Zimmern ein wenig Licht gaben.
In diesem Haus wohnte der Kurdirektor nicht nur, in ihm waren auch seine Büros untergebracht. Hier empfing er Gäste, hierhin kamen seine Angestellten, wenn am Reißbrett gearbeitet werden musste. Tagsüber herrschte viel Unruhe auf der Strandstraße, mit der Dämmerung jedoch senkte sich die Stille über das Haus. Die Läden in der näheren Umgebung waren geschlossen, die Nachbarn hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen.
Auch in den vier Wänden herrschte Stille. Pollacseks Frau Elisabeth war mit den drei Kindern in Hamburg geblieben. Sie hatte nur einen kurzen Besuch auf Sylt gemacht und schnell eingesehen, dass das Leben auf dieser Insel für sie nicht das Richtige war. Seitdem lebte Pollacsek von seiner Familie getrennt, und er fragte sich manches Mal, wie lange seine Ehe das aushalten würde. Aber Dr. Julius Pollacsek war kein Mann, der sich an der Häuslichkeit erfreute und damit zufrieden war, tagsüber sein Geld zu verdienen und sich abends im Schoße der Familie davon zu erholen. Nein, er hatte viele Pläne und Visionen und arbeitete nicht nur, um sich und seine Familie zu
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