Hebamme von Sylt
sie auf Marinus’ Werben einging?
»Es ist schön bei dir«, sagte Marinus, als Geesche in die Wohnstube zurückkam. Er stand auf, nahm ihr den Samowar ab und stellte ihn auf den Tisch.
Geesche warf einen langen Blick zurück, als sie in die Küche ging, um die Teeblätter aufzugießen. Sie hörte, dass er ihr folgte, drehte sich aber nicht um, sondern gab die Teeblätter in einen Krug, als bemerkte sie ihn nicht, und übergoss sie mit kochendem Wasser.
Marinus wartete, bis sie den heißen Kessel zurückgestellt hatte, dann griff er nach ihr und drehte sie zu sich herum. Seine Augen waren dunkel, sein Gesicht war so weich und warmherzig, dass er ihr für eine paar beunruhigende Augenblicke fremd war, weil sie spürte, wie die Leichtigkeit des vergangenen Sommers verflog.
Und fremd war auch sein Kuss. So fremd wie die Welle derZärtlichkeit, die sie erfasste. Sogar die Erinnerungen an den letzten Sommer wurden in dieser Umarmung fremd. Die gemeinsamen Wanderungen am Strand, als seine Hand verstohlen nach ihrer gegriffen hatte. Als sie der Welt den Rücken zugekehrt und lange schweigend auf das Meer hinausgeblickt hatten. Das Erschrecken, als er plötzlich unerwartet im Gemüsegarten hinter ihr gestanden hatte, und das Lachen, als sich herausstellte, dass er nur wenige Minuten Zeit hatte, die schon aufgebraucht waren durch den Weg zu ihr und die Rückkehr zu den Gleisen der Inselbahn. Dann seine Flucht aus dem Stall, als sie nach einer Ente gegriffen hatte, die geschlachtet werden sollte. Und die vielen Stunden auf der Bank vor ihrem Haus, in denen sie zugesehen hatten, wie die Dämmerung sich herabsenkte, in denen sie miteinander geredet, sich einander offenbart, sich vieles gestanden hatten, was bisher ungesagt geblieben war. Dann Marinus’ Gewissheit, nun alles von Geesche zu wissen, und ihre Beschämung, weil sie ihm das Wichtigste vorenthalten musste. Sogar das Vertrauen, das sie zueinander gefasst hatten, wurde in diesen Minuten fremd, weil Marinus sie auf eine Art küsste, die alles veränderte, und weil sie es zuließ und seinen Kuss sogar erwiderte.
Sie wurden ein Liebespaar in diesen Minuten, das spürte Geesche mit aller Deutlichkeit und Sorge, während sie im vergangenen Sommer ein Paar gewesen waren, das einander zugetan war und gemeinsam einen Sommer genießen wollte, der aus dem Garn war, aus dem schöne Erinnerungen gewebt wurden.
War sie bereit für diese Veränderung? Wollte sie die Erinnerung an den letzten Sommer an den Anfang eines neuen Lebens stellen?
Als sie in der Wohnstube saßen, den summenden Samowar zwischen sich, die dünnen Porzellanschalen in Händen, die Geesches Vater in London einem Chinesen abgekauft hatte, war das Fremde verflogen. Alles war wieder so vertraut wie vorher: die Zweifel, die Ängste, die Schuld und die Gewissheit,dass sie nicht zusammenpassten. Anders als Marinus glaubte, aber das konnte sie ihm nicht erklären. Und wenn er meinte, dass er zu ihr passte, hatte er vielleicht sogar recht. Aber sie passte nicht zu ihm! Nicht zu jemandem, der zur Familie von Zederlitz gehörte!
»Kannst du dir vorstellen, woanders zu leben als auf Sylt?«, fragte Marinus nach einer Weile des Schweigens.
»Nein!«, antwortete Geesche so schnell, dass er sie erstaunt ansah. »Nein!«, wiederholte sie, da ihr schlagartig aufging, dass diese Antwort sie von allen Erklärungen befreien konnte. Jeder musste verstehen, dass sie zu Sylt gehörte. Jeder! Niemand durfte von ihr verlangen, dass sie ihr Leben auf der Insel aufgab. Niemand! Ein Leben auf dem Gut der Familie von Zederlitz? Nein!
»Ich dachte es mir«, sagte Marinus, und ein Lächeln ging über sein Gesicht, das sie noch nie gesehen hatte. Aber es war ihr nicht fremd, sondern schien vertrauter zu sein als alles, was sie bereits kannte. »Deswegen werde ich Dr. Pollacseks Angebot annehmen, weiter für die Inselbahn zu arbeiten. Er sagt, er braucht einen guten Ingenieur für die nächsten Jahre.« Sein Lächeln vertiefte sich, in die Mundwinkel sprang etwas Amüsiertes. »Verstehst du? Ich kann auf Sylt bleiben. Jedenfalls für die nächsten Jahre.«
»Und dann?«, fragte sie genauso hastig, wie sie vorher »Nein« gerufen hatte.
Marinus zuckte mit den Achseln. »Dann werden wir weitersehen. Man kann nicht das ganze Leben planen.«
»Doch!« Geesche hatte immer ihr Leben voraussehen wollen. Dass sie längst hatte lernen müssen, wie unberechenbar das Leben war, wollte sie in diesem Moment nicht einsehen. »Ein Leben auf
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