Hebamme von Sylt
fürchtete, lange in dessen Büro in der Strandstraße warten zu müssen, wenn Dr. Pollacsek ebenfalls ein Gespräch mit Dr. Nissen verabredet hatte.
Der Arzt winkte jedoch ab. »Er hat nach mir rufen lassen. Aber machen Sie sich keine Gedanken! Wenn Sie einen Termin haben, lasse ich Ihnen natürlich den Vortritt. Ich habe Zeit.«
Graf Arndt sah ihn schuldbewusst an. »Es tut mir leid, dass Sie während dieser Zeit der Erholung um Hilfe gebeten werden.«
Aber Dr. Nissen wehrte auch hier ab. »Ich bitte Sie, lieber Graf! Nach Ihrer Gemahlin zu sehen wird mir das reinste Vergnügen sein!«
Arndt antwortete mit den passenden höflichen Worten, auf die Marinus nicht mehr achtete, weil in der Ferne der Pfiff der Lokomotive zu hören war. Wie immer faszinierte ihn die Ankunft einer Eisenbahn, selbst wenn es sich nur um eine so kleine wie die Inselbahn von Sylt handelte. Er war nicht umsonst Eisenbahningenieur geworden und seinem Vater nach wie vor dankbar, der seinem unehelich gezeugten Sohn, dem er zu nichts verpflichtet gewesen war, das Studium ermöglicht hatte.
Nun erinnerte er sich auch an das Versprechen, das er seiner Schwägerin gegeben hatte, und entfernte sich ein paar Schritte, ohne dass es seinem Bruder auffiel. Der unterhielt sich angeregt mit Dr. Nissen, der keine Anstalten machte, sich von Arndt zu verabschieden. Wahrscheinlich hoffte er darauf, der Königin vorgestellt zu werden. Wenn er dann wirklich sein Vorhaben in die Tat umsetzen und sich auf Sylt niederlassen sollte, würde er womöglich zum Leibarzt der Königin avancieren, wenn sie die Absicht haben sollte, sich regelmäßig auf der Insel zu erholen. Wenn nicht, würden vermutlich eine kleine Migräne der Königin oder ein Schnupfen ihrer Hofdamen ausreichen, aus Dr. Nissen einen Arzt für den Hochadel zu machen.
Marinus stieg ein paar Stufen der Treppe hinauf, die zum Eingang des Conversationshauses führte, um einen besseren Überblick zu haben. Wenn Dr. Nissen dann von der Idee Abstand nehmen sollte, sich auf Sylt niederzulassen, und stattdessenan den rumänischen Königshof ging, sollte es ihm recht sein. Wenn nicht, dann konnte er nur hoffen, dass Geesche auch in diesem Fall entschied, nicht aus ihrem Stand heraus zu heiraten. Einen erfolgreichen und vermögenden Arzt, der in Adelskreisen ein und aus ging, musste sie dann genauso abweisen wie den illegitimen Spross eines Grafen.
Pfeifend fuhr die Inselbahn nun auf das Conversationshaus zu, fauchend und zischend kam sie zum Stehen. Marinus sah, dass das Gefolge der Königin zwei Waggons füllte. Elisabeth selbst saß im ersten und hatte nur zwei Hofdamen bei sich, die nun eilig heraussprangen und den Gepäckträgern Anweisungen gaben. Die Königin selbst ließ sich nicht blicken, solange ihr Gefolge noch damit beschäftigt war, die richtige Droschke an die richtige Stelle zu winken, damit Ihrer Majestät kein Schritt zugemutet wurde, der nicht unbedingt vonnöten war.
Über den großen, schlanken Mann mit den kohlschwarzen Haaren hätte Marinus vermutlich hinweggesehen, wenn nicht sein Blick gerade in dem Augenblick auf ihn gefallen wäre, in dem eine auffällige Veränderung in seiner Haltung, seinem Gesichtsausdruck, seiner gesamten Person vor sich ging. Zunächst stieg er aus dem Waggon wie alle anderen von Königin Elisabeths Gefolge: froh, dass die lange Reise ein Ende hatte! Er dehnte sich, nachdem er aus dem Abteil gesprungen war, und sah sich neugierig um. Nicht suchend, nein! Marinus war sicher, dass er nicht nach einem bekannten Gesicht Ausschau hielt, dass er niemanden erwartete, der ihn in Westerland willkommen hieß. Dass sein Blick auf Graf Arndt und Dr. Nissen fiel, die sich einander zuneigten und das Geschehen vor ihren Augen kommentierten, schien reiner Zufall zu sein. Doch dann geschah etwas mit ihm. Er erstarrte mitten in einer Bewegung, blieb wie angewurzelt stehen und sah von einer Sekunde zur anderen so aus, als wäre der Tod vor ihn hingetreten. Trotz der Entfernung sah Marinus, wie seine Unterlippe herabsackte und seine Augen sich weiteten. Mit einer hilflosenGeste fuhr er sich durch die krausen Haare, die von da an grotesk von seinem Kopf abstanden, ohne dass er es bemerkte. Den weiten schwarzen Mantel, den er sich übergeworfen hatte, zog er vor der Brust zusammen, als fröre er plötzlich, seine ersten Schritte waren steifbeinig, als bereitete ihm das Gehen Schmerzen. Jemand rief ihm etwas zu, anscheinend wurde er aufgefordert, sich zu einem Pferdefuhrwerk zu
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