Hebamme von Sylt
Versprechen abgenommen worden war, auf keinen Fall am Strand spazieren zu gehen, wo das Herannahen der riesigen Wellen und die Brandung mit ihrer aufspritzenden Gischt eine viel zu starke Wirkung auf eine junge Frau haben konnten, die an ein gleichmäßiges Klima gewöhnt war, hatte Elisa auf einen Hut verzichten dürfen. Ihn würde sie am Strand tragen müssen, um ihr Haar vor dem Salzgehalt der Luft zu schützen, der ihm seinen Glanz nehmen konnte, aber auch, weil der Schleier ihr gut zu Gesicht stand, der über den Hut gebunden wurde, damit er nicht davonflog.
Elisa war bestrebt, nicht zu schnell zu gehen, damit Hanna keine Mühe hatte, an ihrer Seite zu bleiben. »Manchmal wollte ich, ich könnte auch einfach ein weites Baumwollkleid überden Kopf ziehen und eine Schürze darüberbinden. Fertig!« Elisa lachte so hell und zeigte dabei eine so blendend weiße Zahnreihe, dass Hanna mit unverhohlener Bewunderung zu ihr aufsah. »Es muss herrlich sein, ohne Korsett herumzulaufen und die Füße einfach in Holzschuhe zu stecken, statt diese Pariser Stiefeletten zu schnüren.«
Sie hob in komischer Verzweiflung ihre Füße und ließ Hanna ihr Schuhwerk sehen, anscheinend ohne zu ahnen, dass Hanna ihren rechten Arm dafür gegeben hätte, um nur einmal in solchen Stiefeletten leichtfüßig durch Westerland laufen zu können. Nein, Elisa ahnte es wirklich nicht, sonst hätte sie nichts dergleichen gesagt. Sie war stets bemüht, Hanna nicht zu kränken, Rücksicht auf sie zu nehmen und sie wie ihresgleichen zu behandeln, sosehr ihre Mutter darüber auch die Nase rümpfte. Hanna war wie eine Freundin für sie, mit der sie alles teilen konnte, obwohl es in Wirklichkeit nichts gab, was mit Hanna zu teilen war. Aber Elisa ließ sich das freundschaftliche Gefühl für Hanna nicht nehmen, erst recht nicht dadurch, dass es sonst niemanden gab, der je Hannas Freundschaft gesucht hätte.
Der Tag hatte sich von einem dunstigen Morgen befreit und stand mittlerweile in einem klaren Grau über der Insel. Kein sonniger Tag mit einem blauen Himmel, aber ein heller Tag trotz der geschlossenen Wolkendecke, hinter der das Sonnenlicht zum Greifen nah schien. Sie gingen den Bundiswung hinab, der in die Süderstraße mündete, die wiederum auf die Friedrichstraße und kurz darauf auf die Strandstraße stieß. Dann endlich ging es nach Westerland hinein, wo Elisa Einkäufe tätigen wollte.
»Ich muss einiges nach Hause bringen, sonst wird man mich fragen, warum wir so lange ausgeblieben sind!« Sie warf Hanna einen Blick zu, der gleichzeitig verlegen und mitleidig war. »Keine Angst, wir kaufen nur Sachen, die leicht zu tragen sind. Ein paar Bänder und eine Wachstuchkappe für mein Haar, fallsMama mir irgendwann erlaubt, im Meer zu baden. Vielleicht noch ein paar Bücher und Postkarten, aber ich sorge dafür, dass dir meine Einkäufe nicht zu schwer werden.«
»Danke, Comtesse.« Hanna wusste, wie unschicklich es gewesen wäre, wenn Elisa einen Teil der Einkäufe selbst getragen hätte, obwohl die junge Comtesse zweifellos dazu bereit gewesen wäre, wenn sie damit nicht nur sich selbst, sondern auch Hanna dem Spott ausgesetzt hätte. Und wenn Gräfin Katerina das zu Ohren käme, würde es vorbei sein mit Hannas Dienst als Gesellschafterin, daran könnte dann auch Graf Arndt nichts ändern.
In der Strandstraße betrat Elisa beinahe jedes Geschäft, von denen viele in den letzten zwei, drei Jahren aus dem Boden geschossen waren, als Dr. Pollacsek begonnen hatte, vom Fremdenverkehr zu reden. Oft waren es nur armselige Verschläge, die nicht einmal ein Schaufenster besaßen, einige von ihnen hatten ihr Angebot aber seit dem letzten Sommer erweitert und ihre Ladenlokale ansprechend gestaltet. Mit der Geschäftswelt von Sylt schien es aufwärtszugehen!
Wahllos kaufte Elisa ein, nur damit sie unzählige Tüten nach Hause tragen und niemand daran zweifeln konnte, dass sie viel Zeit für diese Einkäufe aufgewendet hatten.
Als die Villa Roth in Sicht kam, vergaß sie für Augenblicke ihre Eile. »Königin Elisabeth von Rumänien ist heute auf Sylt angekommen«, erzählte sie Hanna und zeigte auf das aufwändig gestaltete Logierhaus mit den vielen Türmchen und den kunstvollen Fassadenverzierungen, das wie ein kleines Schloss den schönsten Punkt der Strandstraße markierte. »Hier wohnt sie.«
Die Villa Roth stand auf einem großen Grundstück, eingefasst von dichten mannshohen Hecken, die zwischen die Pfeiler gepflanzt worden waren, die in
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