Hebamme von Sylt
einem Abstand von gut zwei Metern das Gitter verbanden, das das Grundstück und ihre Gäste sicherte. Aber es verschwand in den Hecken, sodass nicht einmal das stets fest verschlossene Tor den Eindruck erweckte, der Apotheker Roth und seine Frau wollten ihre vornehmen Gäste vor den weniger salonfähigen schützen. Hinter dem kunstvoll geschmiedeten Tor öffnete sich ein sorgfältig bepflanzter Garten mit einem blühenden Rondell in der Mitte, das von Kieswegen umrundet wurde, die jeden Morgen gewissenhaft gerecht wurden. Der Eingang der Villa war mit Efeuranken überwuchert, auch die Treppenaufgänge, die links und rechts des Gebäudes direkt ins Hochparterre führten, waren mit Efeuranken bekränzt. Vor der Villa standen mehrere Droschken, von ihren Kutschern bewacht, die die Sylter Kinder, die sie aus der Nähe betrachten wollten, verscheuchten, sobald sie sich näherten. Hinter dem Tor stand ein Hausdiener der Roths, der dafür sorgte, dass kein Neugieriger oder Bittsteller in die Villa eindrang, der die Königin belästigte.
»Ob ihr Gefolge auch hier wohnt?«, überlegte Elisa. Dann ergriff sie plötzlich Hannas Hand und drückte sie, als wollte sie sich an ihr festhalten. »Im Gefolge der Königin ist ein Mann, der für mich als Ehemann in Frage kommt. Ich habe gehört, wie meine Mutter davon gesprochen hat. Wenn ich das nächste Mal nach Sylt komme, bin ich vielleicht schon verheiratet.« Ihr lachendes Gesicht wurde nun so ernst, wie es selten war. »Wenn ich überhaupt jemals wieder nach Sylt komme!«
Hanna sah sie erschrocken an. »Könnte es ein, dass Sie nie wieder …?« Sie brachte es nicht über sich, diesen schrecklichen Satz zu Ende zu sprechen.
Elisa nickte, dann starrte sie einen Moment auf die unbefestigte Straße, in die viele Fuhrwerke ihre Linien gegraben hatten, und zuckte schließlich mit den Schultern. »Vielleicht erlaubt mir mein Gemahl, meine Eltern auf Sylt zu besuchen. Dann werden wir uns auch in den folgenden Jahren sehen, Hanna. Aber wie auch immer es weitergeht – für Ebbo und mich wird dieser Sommer wohl der letzte sein.« Und tapferfügte sie hinzu: »Kann sein, dass auch er im nächsten Jahr verheiratet sein wird. Er ist ja im richtigen Alter dafür.«
Ehe Hanna etwas erwidern konnte, öffnete der Hausdiener das Tor, trat auf Elisa zu und begrüßte sie respektvoll. »Warten Sie auf Ihren Herrn Vater, Comtesse? Oder soll ich Sie zu ihm führen?«
Elisa sah ihn verwirrt an. »Mein Vater ist in der Villa?«
»Es hat einen Empfang gegeben«, antwortete der Hausdiener diplomatisch, ohne den Namen der Königin zu erwähnen. »Ihr Vater wurde eingeladen. Soll ich Sie anmelden?«
Elisa machte einen Schritt zurück. »Oh, nein! Ich möchte nicht stören. Ich hatte meiner Freundin nur die Villa zeigen wollen.« Sie griff nach Hannas Arm, um sie weiterzuziehen. »Komm, Hanna!«
Aber Hanna blieb wie angewurzelt stehen und starrte Elisa an, als wäre sie vom Donner gerührt. »Sie haben mich Ihre Freundin genannt, Comtesse!«
Elisa lachte. »Bist du etwa nicht meine Freundin?«
»Wenn das Ihre Mutter hört!«
»Sie hört es ja nicht.« Wieder zupfte Elisa an Hannas Arm. »Nun komm schon!« Lachend sah sie zu, wie Hanna mühsam ein Bein vor das andere setzte, und tat dann etwas, was Hanna schon im Vorjahr Tränen der Rührung in die Augen getrieben hatte: Die Comtesse von Zederlitz bemühte sich, mit Hanna im Gleichschritt zu gehen. Tohk-tik, tohk-tik.
»Du siehst aus, als hätte ich dich beschimpft. Oder willst du nicht meine Freundin sein?«
»Ich … kann nicht«, brachte Hanna mühsam hervor. »Ich bin nur …«
Weiter kam sie nicht. »Es ist mir egal, was du bist«, sagte Elisa von Zederlitz heftig. »Du tust etwas für mich, was nur eine Freundin tut. Also bist du meine Freundin.«
Noch ehe Hanna etwas entgegnen konnte, öffnete sich die Tür der Villa Roth, und zwei Herren traten heraus. Elisa riss soerschrocken an Hannas Arm, dass die Nähte ihres verschlissenen Baumwollkleides knirschten. »Schnell! Komm! Wir müssen hier weg!«
Wenn Elisa bisher nie schneller gegangen war, als Hanna ihr folgen konnte, so nahm sie in diesen Augenblicken keine Rücksicht auf sie. Mit großen Schritten, die alles andere als damenhaft waren, lief sie auf den Eingang eines Geschäftes zu, in dem sie vor einer Viertelstunde blaue, rote und weiße Bänder gekauft hatte, und drehte sich erst um, als Hanna hinter ihr den Laden betrat.
»Was ist passiert?«, fragte Hanna atemlos.
Elisa
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